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Weder Entschädigung, noch Auflösung

IG Farben demonstrieren Kontinuität, Demonstranten für die Liquidierung.

Nur gut 100 Demonstranten erwarteten Mitte Dezember die Aktionäre der »IG Farben AG in Abwicklung« (IGF) in Frankfurt. Darunter studentische Initiativen und solche aus dem Antifa-Bereich sowie Peter Gingold, der für die VVN-BdA sprach. Sie protestierten wieder für die Auflösung des einst größten Konzerns im nationalsozialistischen Deutschland und die Verwendung des IGF-Vermögens zur Entschädigung der Zwangsarbeiter. Transparente forderten aber auch: »Dem antisemitischen Pack auf die Pelle rücken« und zitierten mit »Deutschland denken heißt Auschwitz denken« Adorno. Mehrere Demonstranten führten israelische Flaggen mit sich. Kurz nach Beginn der Hauptversammlung protestierten etwa 25 bis 30 kritische Aktionäre im Saal selbst. Sie zeigten ein Transparent mit dem Text »Alle Jahre wieder: KZ-Profiteure beim Zocken« und verlangten Rederecht, das nicht erteilt wurde. Statt dessen wurden sie von Angestellten eines privaten Wachdienstes und Polizisten aus dem Raum gedrängt. Auf Veranlassung eines Ordners räumten die Beamten dabei auch gleich noch einen Reporter des Neuen Deutschland mit nach draußen, weil er trotz Aufforderung das Fotografieren nicht unterlassen habe. Der auffordernde Anzugsträger hatte sich jedoch nicht als Bevollmächtigter des Unternehmens ausgewiesen, die Aufforderung war daher gegenstandslos. Der Journalist wurde mit Hausverbot belegt, auf Druck eines Einsatzleiters aber wieder zugelassen.

IGF wirken nicht nur wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, die Liquidatoren (vergleichbar mit Geschäftsführern) reden auch so, namentlich Volker Pollehn. Er war der Meinung, dass IGF »eine der gewaltigsten Protestlawinen, die deutsche Unternehmen je erlebt haben, mit Anstand durchgestanden« habe – der Mann weiß offenbar weder wovon er spricht, noch was unter Anstand zu verstehen ist. Immerhin ist der Realismus so weit gediehen, dass die Rückerlangung alten Ostvermögens (worunter Aktionäre vor einigen Jahren sogar noch »Vermögenswerte in Polen« verstanden) als aussichtslos bezeichnet und nicht mehr verfolgt wird. Anders verhält es sich im sogenannten Interhandel-Komplex, bei dem die von der Bank UBS geforderte Summe bis zu 4,4 Mrd. Mark beträgt. Hier bestehen zwar auch nach Firmenangaben keine rechtlich durchsetzbaren Ansprüche mehr, das aber will man nicht einsehen: »Die UBS ist gut beraten, sich mit uns zu einigen so lange das noch möglich ist, sie trägt sonst den Makel des Unrechts auf ihrer Stirn.« Zugleich heißt es im Geschäftsbericht 2001, man wolle das Vermögen aus dieser Angelegenheit angeblich zur Entschädigung von Zwangsarbeitern verwenden. Eine Konstruktion, die schon seit ein paar Jahren als Motivation für die Bemühungen in Sachen Interhandel herhalten darf sowie als Begründung dafür, dass die IGF-eigene Entschädigungsstiftung nur mit lächerlichen

500 000 Mark ausgestattet wurde und bislang keinerlei Auszahlungen vorgenommen hat. Demgegenüber bezifferte Liquidator Otto Bernhardt (CDU) die jährlichen Pensionsverpflichtungen für die ehemaligen Täter auf 800.000 Euro im Jahr. Außer am Interhandel-Komplex hänge die »nach wie vor« für 2004 angestrebte Auflösung noch am Verkauf der Immobilien und Grundstücke, für die ein Käufer gefunden sei, die Abwicklung müsse aber noch unter Dach und Fach gebracht werden. Im Jahr 2001 ist das ausgewiesene Abwicklungskapital von IGF von 20,7 Mio. auf gut elf Mio. Mark gesunken, verursacht durch einen gegenüber dem Jahr 2000 mehr als verdoppelten Betriebsverlust von fast zehn Mio. Mark. Dazu trugen Abschreibungen bei: Die Tochter Ammoniakwerk Merseburg GmbH, deren Tochter wiederum das operative Geschäft betreibt und die Immobilien besitzt, wurde komplett abgeschrieben und befindet sich nun mit dem symbolischen Wert von einer Mark in den Bilanzen, obwohl sie Grundstücke und Häuser im Wert von 75 Mio. besitzt. Ebenso wurde der Kredit von IGF an ihre Tochter im Wert von 30 Mio. Mark komplett abgeschrieben.

Da die Gesellschaft selbst rechtlich durchsetzbare Ansprüche in Sachen Interhandel verneint und die Immobilien angeblich kurz vor dem Verkauf stehen, fragt sich, mit welcher Begründung die Abwicklung sich noch bis 2004 hinschleppen soll. Sollte sich das ausgewiesene Abwicklungskapital bis 2004 ähnliche rasch wie zuletzt verringern, wird es dann sowieso nichts mehr abzuwickeln geben.

Martin Brust

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Liga6000 – frankfurt_digital. Online-Magazin für Alltag in Frankfurt. Musik, Literatur, Politik und mehr. Zu finden unter: www.liga6000.de

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Gurkendose auf Konzertflügel

Einige nachträgliche Bemerkungen zu Polanskis »Der Pianist« und seiner deutschen Presserezeption.

Nach dem Advertisement für Polanski Film in Deutschland hätte man erwarten können, dass die ›Rettung‹ des Pianisten durch einen deutschen Wehrmachtsoffizier auch in der Presse einen breiteren Raum einnehmen würde, da deutsche ›Retter‹ seit »Schindlers Liste« medial hoch im Kurs stehen. Das war – sieht man von der Bild-Zeitung ab – glücklicherweise kaum der Fall, zumal weder der Film, noch der bereits 1946 verfasste Bericht von Szpilman eine solche Deutung wirklich hergeben. (Darüber hinaus müsste es sich langsam herumgesprochen haben, dass Überlebende des Holocaust häufig einen ›Retter‹ haben. Zum einen bedurfte es einer solchen Person aus ganz praktischen Gründen, zum anderen stellte sie für viele Überlebende einen psychischen Bezugspunkt dar. Eine – aus welchen Gründen auch immer geleistete – Unterstützung konnte zur ›Rettung‹ verklärt werden, um nicht vollends das Vertrauen in die Menschen zu verlieren.)

Einhellig war die Aufmerksamkeit und Anerkennung für einen anderen Punkt: Polanski gilt spätestens seit »Ekel« und »Rosemaries Baby« als Meister von Gewalt- und Horrorinszenierungen – und in der Tat hat der Film hier etwas zu bieten, was so in den letzten Jahren nicht im Kino zu sehen war. Im weitgehenden Verzicht auf die Mythologisierung der Gewalt und des Todes führt er in lakonischen Bildern ihre Endgültigkeit vor Augen – keine Szene, in der sich noch mal jemand über eine Leiche beugt und bescheinigt, dass sie tot ist. Nie war die Anwesenheit von Toten in den Straßen so selbstverständlich, ohne dass den ZuschauerInnen ein Trost angeboten wird oder ein noch so verstellter Sinn aufscheint. Wenn bei anderen die Streicherquartette einsetzen, ist bei Polanski nur das leise Summen der Fliegen zu hören.

Der entscheidende Punkt, an dem der Film von den konventionellen Darstellungen des populären Kinos abweicht, ist in den Rezensionen zwar bemerkt, aber in seiner historiographischen wie filmtheoretischen Bedeutung nur in der Besprechung von Georg Seesslen in der Zeit thematisiert worden. Er liegt in der eigentümlichen Konzentration und Hingabe, mit der Polanski die Überlebensgeschichte von Szpilman nachzeichnet und versucht, eine individuelle Geschichte inmitten der von Ikonen umstellten Erinnerungslandschaft zu erzählen.

Hat man den Bericht von Szpilman selbst gelesen, wird erst deutlich, wie eng Polanski – von der angedeuteten Liebesgeschichte zu Beginn abgesehen – an der Vorlage bleibt: kein dramaturgischer Höhepunkt, der nicht der Vorlage von Szpilman folgt. Der Spielfilm geht ins Dokumentarische über, ohne sich gegenüber den historischen Tatsachen zu versklaven. Vielleicht ist das ein wenig so, wie es Jorge Semprun in seinem jüngsten Roman »Der Tote mit meinem Namen« für die Literatur beschrieben hat: nämlich, dass der Schriftsteller mit seiner kreativen Leistung der Historiographie zu Hilfe eilen muss, um historische Wahrheit zu generieren. Ähnliches kann für die Regiearbeit gelten. Darin liegt der Vorteil der Literatur oder des Films gegenüber der Wissenschaft: dass sie freier mit den Fakten umgehen können und häufig auch weniger theorieblind und positivistisch sind als eine den historischen Fakten verpflichtete Geschichtswissenschaft.

Erstaunlicherweise war es der Nicht-Filmtheoretiker Marcel Reich-Ranicki, der in der FAZ auf die Notwendigkeit hinwies, neue Bilder zu inszenieren, da die verfügbaren dokumentarischen zumeist NS-Propaganda sind. Allerdings müssen sich die inszenierten Bilder nicht nur zur Historie verhalten, sondern sich auch gegenüber den etablierten Holocaust-Erzählungen behaupten. Und hier bewahren die Versenkung ins Detail der Überlebensgeschichte seiner Hauptfigur und der Blick fürs Profane und das Absurde Polanski davor, den konventionellen Narrativen zum Opfer zu fallen: die Gurkendose auf dem Konzertflügel statt das rote Kleidchen in farbloser Menge als zentrales Motiv zu zeigen.

Micha Elm

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Schritte ohne Schritte auf Deutschland zu

Yoram Kaniuk alias »Der letzte Berliner« schildert seine erste und darauf folgende Reisen nach Deutschland. Im Rückgriff auf das Bild von der »Rückkehr ohne Schritte« aus Nelly Sachs’ Stück Eli beschreibt er seinen Wunsch, nach Deutschland fahren zu wollen, ohne in Deutschland zu sein. Er bettet seine biografischen Schilderungen in einen narrativen Rahmen ein, der die Ambivalenz in seiner dilemmatisch anmutenden notwendigen Verbindung zu Deutschland veranschaulicht. Eckdaten der Familiengeschichte: Vater Mosche Kaniuk, 1898 in Tarnopol (Galizien) geboren, in den 20er Jahren nach Berlin emigriert, Studium u .a. in Heidelberg, 1928 Auswanderung nach Palästina; Yoram wird 1930 in Tel Aviv geboren und ist im Vergleich zu den meisten seiner Altersgenossen kein Überlebender des Holocaust. Zentrales Moment seiner Sozialisation durch Großvater und Vater war deren positiver Bezug auf die deutsch-jüdische Kultur der Weimarer Republik.

Kaniuk erzählt eine Geschichte, die er irgendwann angefangen und nicht zu Ende geschrieben hat. Die Interpretation liegt nahe, dass es sich dabei um seine eigene Geschichte handelt. Auf einer mysteriösen Gedenkfeier zum Todestag seines Großvaters erfährt Uri vierundzwanzig von der schicksalhaften Bestimmung, die ihm sein Großvater aufgebürdet hat. Am 28. November 1939 sollten Gustav vierundzwanzig und seine Frau Hilde Berlin verlassen. Aus ungeklärten Gründen erscheint sie nicht am verabredeten Treffpunkt; die beiden sehen sich nie wieder. Uris Bestimmung ist es nun aufzuklären, weshalb seine Großmutter nicht wie verabredet am Bahnhof ankam. »Erst jetzt begriff Uri das Spiel, das sein Großvater seit seiner frühesten Kindheit mit ihm gespielt hatte. Der Großvater hatte ihn gelehrt, wie Berlin am 28. November 1939 aussah, dem Tag, an dem er die Stadt verließ. Die Momentaufnahme der Stadt hatte sich in sein Bewusstsein unauslöschlich eingeprägt, und so gab er sie an seinen Enkel weiter, und der Enkel hatte Freude an dem Spiel und glaubte, er lerne bei dem Spiel eine Stadt kennen, die gar nicht existierte« (S. 27). Man kann diese Geschichte als eine Erklärung für das emotionale Spannungsverhältnis lesen, in dem sich Kaniuk zu Deutschland befindet. »Weniger aus Neugier als aus einer Art Heimweh« (S. 21) macht sich »der letzte Berliner« 1984 zum ersten Mal auf den Weg nach Deutschland.

Yoram Kaniuk schreibt vor allem ein sehr persönliches Buch, doch durch seine zahlreichen Verweise auf die deutsch-jüdische Geschichte und die Bezüge zu der durchaus politischen Frage des möglichen Verhältnisses zwischen Israel und Deutschland gelingt es ihm, über sein individuelles Erleben hinaus die kollektive Geschichte deutsch-jüdischer Identität bzw. deren Unmöglichkeit zu erzählen. Im Mittelpunkt steht die schmerzhafte Erfahrung jüdischer Intellektueller, die Stefan Zweig im Exil 1942 kurz vor seinem Selbstmord wohl am eindringlichsten beschrieben hat: »Mein literarisches Werk ist in der Sprache, in der ich es geschrieben, zu Asche gebrannt worden … Auch die eigentliche Heimat, die mein Herz sich erwählt, Europa, ist mir verloren …« (S. 22). Auf die Zerstörung und Heimatlosigkeit deutsch-jüdischer Kultur kommt Kaniuk immer wieder zu sprechen.

Das Thema, das in unterschiedlicher Weise auftaucht, ist, ganz allgemein gesprochen, die Frage nach einem möglichen Verhältnis von Juden und Deutschen, genauer gesagt, die Frage, weshalb in Deutschland die Sehnsucht nach deutsch-jüdischer Kultur oder das Gefühl eines Verlustes nicht stärker spürbar ist. Kaniuk stellt in Deutschland immer wieder verwundert fest, dass die gemeinsame Geschichte, die durch den Holocaust brutal beendet wurde, in Deutschland nicht stärker als Verlust und als Abbruch einer gemeinsamen Geschichte wahrgenommen wird. In diesem Sinne konstatiert er resignativ: »Da war wieder die fehlende Wahrnehmung einer Präsenz, die aus der Abwesenheit lebte. Sogar in Peking empfindet man die Abwesenheit der Juden stärker als in Deutschland« (S. 192).

In den verschiedenen geschilderten Begegnungen taucht sehr plastisch die schmerzliche Erfahrung der Diskrepanz zwischen seinem persönlichen Bedürfnis nach einer offensiven Auseinandersetzung mit der deutsch-jüdischen Vergangenheit und der für ihn in Deutschland spürbaren bis zur Ignoranz reichenden Distanz gegenüber der gemeinsamen Geschichte auf. Kaniuk formuliert jedoch nicht, wie die Rezension in Die Zeit (26 / 2002) von Stefan Weidner nahe legt, den pauschalen Antisemitismusvorwurf. Dieser Vorwurf wird der Vielfalt der Schilderungen nicht gerecht. Und auch die abfällige Bemerkung von Eva-Elisabeth Fischer in der Süddeutschen Zeitung

(02. 08. 2002), es handele sich um ein »entsetzlich dummes« Buch, übersieht die Subtilität und Tiefe der Auseinandersetzung. Man könnte die Rezensionen durchaus als Ausdruck einer permanenten Schuldabwehr lesen, die in jeder Äußerung eine Anklage sieht. Die eigenwillige Interpretation, die Stefan Weidner von Kaniuks Schilderung seiner Gedanken während eines Besuchs bei Habermas gibt, lässt sich anders kaum erklären. Kaniuk schreibt: »Wir tranken Wein, die Bücher, die Bilder und das ruhige Gespräch verbreiteten eine angenehme Atmosphäre. Als ich dieses abgelegene Haus sah, dachte ich, wie leicht es gewesen wäre, hier Juden zu verstecken. Allein im Erdgeschoss hätte man vier Juden unterbringen können. Wer hätte sie mitten im Wald gefunden? Ich sagte Habermas nichts von diesen Gedanken. Er ist nicht schuld an dem, was nicht geschehen ist« (S. 241). Weidner leitet diese Szene folgendermaßen ein: »Aber man sträubt sich zu verstehen, warum dann auch Habermas ins Schussfeld gerät.« Und nach einer kurzen Schilderung der oben zitierten Begegnung gibt er folgende Deutung: »Im selben Moment, in dem Kaniuk Habermas freispricht, insinuiert er dessen Schuld. Denn im Kontext dieses Buches ist der Vorwurf immer schon erhoben.« Wohlwollend könnte man diese Deutung als eine Fehlinterpretation lesen, meines Erachtens steckt dahinter jedoch die strukturelle Abwehr einer sensibilisierten Wahrnehmung, die Kaniuk als Person symbolisiert.

Natürlich provoziert Der letzte Berliner durch seinen kritischen Blick auf Deutschland. Aber gerade weil das Buch in sehr persönlicher Weise Gedanken, Gefühle und Ängste eines Israelis mit einer solchen Biographie aufzeigt, enthält es das Bedürfnis nach Auseinandersetzung und Verständigung. Bemerkenswert ist die schonungslos ehrliche und offene Art Kaniuks. So verwundert es auch nicht, dass es an vielen Stellen selbstironisch auch eigene Vorurteilsstrukturen eingesteht. »Meine Frau hatte alle Mühe, italienische Fieberthermometer für mich aufzutreiben, die schwierig zu bekommen waren, um keine deutschen Thermometer kaufen zu müssen. Ich fuhr französische Wagen, die mir nur Ärger machten, um mir keinen Volkswagen anzuschaffen, der mir siebenhundertundfünfzig Tage in der Werkstatt und astronomische Preise erspart hätte, ich tauschte einmal ein deutsches Fernsehgerät wieder um…« (S. 20).

Das Spektrum der Schilderungen bewegt sich zwischen Selbstironie und direkter Anklage. Natürlich lässt sich in diesem Buch nachlesen, dass es in Deutschland spürbaren Antisemitismus gibt, aber wer wollte das bestreiten? In den aktuellen politischen Debatten um den Konflikt im Nahen Osten lässt sich immer wieder feststellen, dass man sich hierzulande in besonderem Maße aufgerufen fühlt, Kritik an Israel zu üben. Das Unangenehme daran ist, dass diese Kritik inzwischen sogar häufig mit dem Argument versehen wird, man habe aus der Geschichte gelernt und müsse sich gerade wegen der historischen Verantwortung, bzw. der Auseinandersetzung mit der Geschichte äußern. Auch wenn man sich die jeweilige historische Situation genau ansehen muss, werfen Kaniuks kritische Ausführungen über seine Kritik an der Haltung der Grünen zu Israel während des Golfkrieges durchaus aktuelle Fragen auf. Wenn man aus Deutschland eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikt fordert, muss man sich damals wie heute durchaus fragen, ob man die in Israel erlebte permanente Bedrohung durch den Irak wirklich ernst nimmt.

Verfolgt man in Deutschland ernsthaft den Anspruch, verantwortlich mit der Geschichte umzugehen, muss man sich unangenehme Fragen stellen. So schmerzlich es ist, die Frage, ob Ignatz Bubis Angst hatte, sein Grab würde geschändet, wenn er in Deutschland begraben würde, ist berechtigt und wichtig.

In einer Selbstbeschreibung am Ende seines Buches macht Kaniuk deutlich, dass es ihm um die Frage der Erinnerung geht und darum, was man aus ihr macht und wie man sie lebt: »Die meisten Deutschen und Juden sind nur dafür verantwortlich, wie intensiv sie sich mit dem Geschehen auseinandersetzen und auf welche Art sie das tun.«

(S. 253) Das liest sich wie eine Aufforderung, sich ehrlich und verantwortlich mit den eigenen Verstrickungen in die jeweilige kollektive Erinnerung auseinander zu setzen.

Tanja-Maria Müller

Yoram Kaniuk: »Der letzte Berliner«. Aus dem Hebräischen von Felix Roth. List Verlag, München 2002. (18 EUR)

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Schwieriges Stimmen

Der Offenbacher Verein Connection e.V. tritt seit Jahren für ein umfassendes Recht auf Kriegsdienstverweigerung ein. International arbeitet er mit Gruppen zusammen, die sich gegen Krieg, Militär und Wehrpflicht engagieren. Aus dieser Arbeit heraus ist ein Buch entstanden, dass sich mit dem Nahostkonflikt auseinandersetzt. Autor/innen aus Israel, Palästina und Deutschland versuchen aus unterschiedlichen Blickwinkeln emanzipatorisches Potential zur Lösung dieses Konflikts zu aktivieren. Einig sind sie sich in dem zentralen Ziel eines sicheren Israels und eines eigenständigen palästinensischen Staates. Dies bedeutet die Beendigung des palästinensischen Terrors und die Räumung der israelischen Siedlungen in den seit 1967 besetzten Gebieten Westbank und Gaza. Das Buch macht deutlich, welche Hindernisse auf dem Weg zu diesem Ziel zu bewältigen sind.

Moshe Zuckermann, Professor für deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv, weist auf die Bedeutung einer Räumung der besetzten Gebiete für das Selbstverständnis Israels hin. Bis heute hat es die israelische Gesellschaft versäumt, zu klären, ob sie den Staat Israel als ein politisches oder als ein religiöses Projekt versteht. Für die Siedlerbewegung ist das Westjordanland das »Land der Urväter« und Hebron die Stadt Abrahams. Für sie ist Israel wesentlich auch ein religiöses Projekt. Eine Rückgabe der besetzten Gebiete kommt für sie nicht in Frage. Doch dies bedeutet, so Zuckermann, »dass Israel in einem Dauerzustand der Okkupation und der akuten Gewalt verharrt.« Eine Lösung des Konflikts ist nur möglich, wenn Israel zuvor sein Selbstverständnis klärt. Und das kann nur heißen, sich von dem religiösen Staatsverständnis zu verabschieden. Israel muss sich zuallererst als ein politisches Projekt begreifen.

Sowohl Subhi al–Zobaidi, Filmemacher aus Ramallah, als auch Rafik Schami, Schriftsteller aus Damaskus, zeigen, dass sich auch die palästinensische Gesellschaft unangenehme Fragen stellen muss. Zunächst müssen sich die Palästinenser vom Terror als Mittel des politischen Kampfes verabschieden. »Wie viele andere habe auch ich genug von dieser fatalistischen Art des Widerstands, den Hamas und Islamischer Djihad anführen«, sagt Subhi al–Zobaidi und Rafik Schami fügt hinzu: »Ein palästinensischer Staat kann nicht ernsthaft mit Israel verhandeln und zugleich offiziell Büros von terroristischen Islamisten unterstützen.« Doch die Attentate sind Ausdruck einer politischen Krise. »Die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA) verdrängte seit ihrer Gründung 1993 praktisch jeglichen politischen Ausdruck, den sich der palästinensische Kampf in den letzten fünf Jahrzehnten geschaffen hatte.« Anstatt offene, demokratische und widerständige Strukturen auf- und weiterzubauen, konzentrierte sich die PNA auf die Zementierung ihrer Macht. Sie wählte »den Weg der arabischen Diplomatie, um ihre Ziele zu erreichen. Sie gingen direkt zu den höchsten Stellen in den Staaten, die sie besuchten, und ließen die Menschen, die Macht der Strasse und der zivilen Institutionen links liegen. Medien, Kultur und soziale Bewegung wurden nie als strategische Mittel und revolutionäre Werkzeuge begriffen. (…) Eine politische Kultur des Widerstands zu schaffen lag ihnen fern.« So braucht die palästinensische Gesellschaft dringend eine Pause, »um wieder zum Atmen zu kommen.« »Wir stecken in einer tiefen Krise«, schreibt Rafik Schami. »Und wir müssen die Frage nach dem Warum stellen. Erst dann sehe ich Hoffnung.«

Während es den männlichen Autoren um das Selbstverständnis ihrer Gesellschaften geht, zeigt Uta Klein, Professorin für Soziologie an der Fachhochschule Kiel, dass Politik und Macht in beiden Gesellschaften ein Geschlecht haben. Sie macht deutlich, dass vor allem die »Geschlechterdemokratie« Opfer des militärisch geführten Konflikts geworden ist. In der israelischen und palästinensischen Gesellschaft ist eine militärische Laufbahn Sprungbrett für eine politische (und auch sonstige) Karriere. So ragt die patriarchale Struktur des Militärs direkt in die Gesellschaft hinein. In der Knesset liegt der Frauenanteil bei mageren 12 Prozent, die palästinensische Vertretung kommt auf 6 Prozent. Die personelle Benachteiligung von Frauen zieht sich direkt auf der Ebene des Diskurses durch. Der militärische Diskurs dominiert den Diskurs um Geschlechterfragen. Die Benachteilung von Frauen gilt als »Luxusproblem, um das man sich kümmern werde, wenn Frieden erreicht sei.« Zum Teil wird diese Haltung auch von Frauen internalisiert. »Wir glauben«, so eine Aktivistin der Union der Palästinensischen Frauenkomitees, »dass wir unter der Besatzung so sehr leiden, dass wir alle Fragen der Geschlechterbefreiung bis nach der nationalen Befreiung aufschieben müssen.« Erstaunlich ist jedoch, dass auch Uta Klein das Primat des Militärischen anerkennt. »Es wird lange dauern«, schreibt sie, »bis in beiden Gesellschaften eine Entmilitarisierung dazu führen kann, dass Geschlechterdemokratie wieder auf der Tagesordnung steht.«

Reuven Kaminer, Aktivist der israelischen Friedensbewegung Peace Now, zeichnet die Geschichte und aktuelle Lage der israelischen Friedensbewegung nach. Er macht deutlich, dass die Friedensbewegung den Fehler beging, ausschließlich auf Ehud Barak, ihren Kandidaten, zu setzten. Sie versäumte dabei, eine eigenständige Position zu entwickeln. Mit Baraks überwältigender Niederlage im Februar 2001 verschwand dann auch die Friedensbewegung in der Versenkung. Erst Anfang 2002 trat sie wieder öffentlich in Erscheinung. Doch sind die verschiedenen Gruppen der Friedensbewegung noch nicht in der Lage, eine gemeinsame Plattform zu bilden. Zu unterschiedlich bewerten sie die Ursachen des Konflikts. Während die gemäßigte Friedensbewegung Peace Now den palästinensischen Terror für die Verschlechterung der Lage mitverantwortlich macht, »akzeptieren die Radikalen niemals, dass die Ursachen für den Nahostkonflikt gleichrangig seien.« Für sie ist »israelischer Militarismus und Expansionismus die Wurzel der Krise.« Doch in ihrer zentralen Forderung »Raus aus den Gebieten« ist sich die Friedensbewegung einig. Leider stellt sich Reuven Kaminer allzu sehr auf die Seite der Radikalen. Bei ihm gerinnt die andere Seite schnell zu einem »palästinensischen Volk«, dass den Blick für kritische Differenzierungen versperrt.

Endy Hagen beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Kriegsdienstverweigerung in Israel. Sie macht auf die besondere Situation der Kriegsdienstverweigerer aufmerksam. Deren Situation spiegelt sich in unterschiedlichen Formen der Verweigerung und unterschiedlichen Begründungen. Zum einen gibt es diejenigen, die nur den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern, zum anderen die, die, solange Israel die besetzten Gebiete nicht räumt, überhaupt keinen Militärdienst leisten wollen. Die Begründungen für die Verweigerung reichen von loyalen Argumentationen verweigernder Offiziere, die ihre Verweigerung mit der Sicherheit Israels begründen, bis hin zu verweigernden SchülerInnen, welche die Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Armee in den besetzten Gebieten hervorheben. Die Zahl der Verweiger/innen hat politisch noch keine relevante Größe erreicht. Noch werden alle Verweiger/ innen einzeln abgeurteilt und zu mehr oder minder kurzen Haftstrafen verurteilt. Doch die »Bedeutung ihres Tabubruchs in einer zumindest ideologisch unverändert eng mit der Armee verwobenen Gesellschaft ist groß.«

Dies sind einige der Stimmen, die sich in diesem Buch für Frieden und Verständigung einsetzen. Sie legen nahe, dass Frieden nur zu haben ist, wenn beide Gesellschaften weitreichende Revisionen ihres politischen, militärischen und geschlechtlichen Selbstverständnisses vornehmen.

Stefan Trenkel

Rudi Friedrich (Hg.): »Gefangen zwischen Terror und Krieg? Israel/Palästina: Stimmen für Frieden und Verständigung. Geschichten ? Analysen ? Positionen.« Trotzdem Verlagsgesellschaft, Graufenau 2002. (12 Euro)

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Mufti-Papiere

Spätestens seit den Anschlägen vom 11. 9. 2001, aber auch im Zusammenhang mit den Terrorakten in Israel wird über einen arabischen Antisemitismus gestritten. Anhand der vom Zentrum Moderner Orient herausgegebenen Schriften des ehemaligen Großmuftis von Jerusalem lässt sich die Entwicklung und Veränderung der Judenfeindschaft in der arabischen Welt des 20. Jahrhunderts an einem berüchtigten Beispiel genauer studieren. Amîn al-Husainî war von 1926 bis 1937 der Großmufti von Jerusalem, bis die britische Mandatsmacht ihn absetzte; von 1940 bis 1945 befand er sich im europäischen Exil. Bekannt ist seine Freundschaft zu Adolf Hitler und anderen Führern der so genannten »Achsenmächte« Italien und Nazideutschland.

Gerhard Höpp geht im Vorwort auf die Vieldeutigkeit der Person Amîn al–Husainîs ein. Amîn

al-Husainî gehöre, so Höpp, »nach wie vor zu den umstrittensten politischen Persönlichkeiten in der modernen Geschichte des Vorderen Orients [...]. Während Amîn al-Husainî (1895 – 1974), der ehemalige ›Großmufti‹ von Jerusalem, für die einen der Inbegriff verabscheuungswürdiger Kollaboration mit dem Nationalsozialismus und dem Faschismus geworden ist und ihnen als Mitverantwortlicher am Holocaust gilt, bagatellisieren oder verdrängen andere seine Zusammenarbeit mit den Mächten der ›Achse‹ während des Zweiten Weltkriegs und bekennen sich trotzig zu ihm als einen der großen Führer in ihrem nationalen Befreiungskampf.«

Dass beide Seiten aber einander nicht unbedingt widersprechen müssen, wie Höpp behauptet, zeigt ein Blick auf neuere Antisemitismustheorien. Im Europa jedenfalls ist die Konstitution der eigenen Nation eng verknüpft mit der Ausgrenzung der so genannten inneren Feinde, »den Juden«. Neben die Unterscheidung der eigenen von fremden Nationen tritt so die Unterscheidung zwischen allen Nationen und »den Juden«, wodurch »die Juden« als Gegenbegriff für alle Nationen der Welt erscheinen. Gilt das vielleicht auch für den »nationalen Befreiungskampf« der Araberinnen und Araber in Palästina?

Dass die Feindschaft gegen andere Nationalitäten die Einheit der eigenen Nation stärkt, wusste auch al-Husainî. In einem Brief an Adolf Hitler von 1941 stellt al-Husainî fest, dass der Konflikt zwischen den Jüdinnen und Juden und den Araberinnen und Arabern in Palästina »alle arabischen Laender in einem gemeinsamen Hass gegen die Englaender und Juden geeint [habe]. Wenn der gemeinsame Feind das Vorspiel der Bildung der nationalen Unabhaengigkeit ist, kann man sagen, dass das palaestinensische Problem diese Einigkeit beschleunigt hat.«

Die historische Situation in Palästina zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist offenkundig eine andere als in Europa. »Juden« erscheinen hier (im Gegensatz zu Europa) weniger als Feinde im Innern, sondern eher als äußere Feinde. Zwar verfügten die Jüdinnen und Juden bis zur Staatsgründung Israels 1948 nicht über einen eigenen Staat, aber seit der Besiedlung Palästinas war ein unabhängiger Staat Israel das Ziel der zionistischen Jüdinnen und Juden. Diese Siedlerinnen und Siedler lebten unter den Araberinnen und Arabern nicht im gleichen Sinne innerhalb der jeweiligen Gesellschaften, wie sie in den europäischen Gesellschaften lebten.

Die »Mufti-Papiere« zeigen, wie die Feindschaft in der arabischen Welt gegen die jüdische Besiedlung dem europäischen Antisemitismus ähnlicher werden konnte. In den Texten al-Husainîs bis Anfang 1940 werden Jüdinnen und Juden noch als Vorboten des britischen Imperialismus gesehen. Zwar werden sie bereits 1941 in einem Brief an Adolf Hitler als die »gefaehrlichen Feinde« bezeichnet, die die Machtmechanismen der modernen kapitalistischen Welt beherrschen: »das Geld, die Korruption und die Intrigen«. Aber hinter den angeblich reichen, korrupten und intriganten Jüdinnen und Juden in Palästina steht noch der britische Imperialismus, steht »England, dieser erbitterte und verschlagene Feind der wirklichen Freiheit der Völker«.

Doch mehr und mehr werden »die Juden« in al-Husainîs Schriften zu der gewaltigen Übermacht, die angeblich hinter den weltlichen Akteuren herrscht. 1942 spricht al-Husainî schon vom Kampf gegen »die Engländer und die hinter ihnen versteckten Juden«. Noch deutlicher wird er in einem Brief an den Bey von Tunis: »Das Mitkaempfen der Tunesier an der Seite der Achsenmaechte gegen die gemeinsamen Feinde traegt zur Abwehr ihrer Unterdrueckung, der bolschewistischen Gefahr und des juedischen Ungluecks bei. Wir alle wissen, wie die Amerikaner und Englaender von den Juden gefuehrt werden und wie sie sich den juedischen Aspirationen und der juedischen Gier gegenueber, ob im Maghreb oder im Arabischen Orient helfend stellen.«

Die US-amerikanischen und britischen Kolonialinteressen sind nun, wie für den deutschen Nationalsozialismus, nur Teil einer »internationalen jüdischen Verschwörung«, die, auch dies wie bei den Nazis, mit der vermeintlichen »bolschewistischen« Bedrohung einhergehe. Wie die Nazis spricht er von Jüdinnen und Juden im rassistisch–medizinischen Vokabular: »Doch immer, wenn jüdische Bazillen gefunden werden, gibt es auch Mittel gegen diese Krankheit, die die Welt befällt und die überall das arabische und islamische Wesen bedroht. Amerika ist voll von diesen Mikroben, die aus allen Ecken und Enden der Welt zu ihm gelangt sind, und es wird durch die jüdische Seuche selbst den größten Schaden erleiden. Die arabische Welt begegnete dieser tyrannischen Herausforderung durch das jüdische Amerika mit Zorn und Stolz.«

Im August 1942 ist erstmals in einem Brief al-Husainîs die Rede von »arabischen regulaeren militaerischen Einheiten, die Schulter an Schulter mit den Achsentruppen« kämpfen. Vor solch einer muslimischen SS-Division sagt al-Husainî:»Mich hat es sehr beglückt, dass Ihr Euch in die Reihen der Waffen SS eingegliedert habt, und dass Ihr entschlossen seid, mit festem Glauben Seite an Seite mit unseren deutschen Verbündeten gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen. Das Lager der Alliierten, das vom Weltjudentum getrieben wird, d.h. von den Mächten, die seit jeher als traditionelle Feinde des Islams gelten, die die Moslime unterdrücken, ihre Länder besetzen, ihre Religion bekämpfen und ihnen für die Zukunft das Schlimmste vorbereiten.«

Die Veröffentlichung der »Mufti-Papiere« in den Übersetzungen der deutschen Nazis gibt auch einen Hinweis darauf, wie der Rassismus gegenüber den Araberinnen und Araber und der Antisemitismus der deutschen Nazis zusammenwirken. Die Nazis »verballhornen« nämlich, wie Höpp schreibt, an einigen Stellen die arabischen Namen; statt Hadz-Effendi heißt es dann »Affendie«. Von deutscher Seite hat die Verbundenheit mit den muslimischen SS-Verbänden Grenzen: Sie werden benutzt, wenn es gegen den gemeinsamen Feind, »die Juden«, geht, aber trotzdem sind Araberinnen und Araber keine wirklichen Menschen. Amîn

al-Husainî mag sich auf das »arabisches Sprichwort: Der Feind Deines Feindes ist Dein Freund« berufen, aber für Hitler, Himmler und Ribbentrop ist al-Husainî eben kein ebenbürtiger Freund, sondern nur ein nützlicher Affe.

Olaf Kistenmacher

Amîn al-Husainî: Mufti-Papiere. Briefe, Memoranden, Reden und Aufrufe Amîn al-Husainîs aus dem Exil, 1940 – 1945 (Studien des Zentrums Moderner Orient Bd. 16), hrsg. von Gerhard Höpp. Klaus Schwarz Verlag, Berlin 2001.

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Zweifeln für einen Post-Antiimperialismus

Mit seinem Erstlingswerk »Krieg ist Frieden« knüpft Wolf Wetzel politisch wie publizistisch an sein vormaliges Autorenkollektiv, die autonome L. U. P. U. S.-Gruppe, an. Zum einen greift er vakante Zeitfragen des deutschen Linksradikalismus auf und versucht gewissen ›Fehlentwicklungen‹ mit einer alternativen politischen Analyse und Positionierung zu begegnen. Mit ihren Texten zum zweiten Golfkrieg, dem ›Asylkompromiss‹ und den Pogromen und Lichterketten etablierte sich Lupus als eine wichtige Stimme in der Nie wieder Deutschland-Linken der 90er. Zum anderen bedient sich Wetzel der ereignisorientierten Publikationsweise von Lupus, die in einer zeitnahen Analyse ihres Gegenstands bestand. Im Unterschied zu den Lupus-Textsammlungen kompiliert »Krieg ist Frieden« jedoch Texte aus über zehn Jahren. Damit lässt Wetzel die Chance verstreichen, die eigene Geschichte eingehend zu reflektieren, um politische Sackgassen erkennen und verlassen zu können. Was sich besonders in den aktuellen Texten zu den Entwicklungen seit dem Elften Neunten bemerkbar macht.

Eine solche »Zeitreise« (Verlags-Info) hat aber auch ihre Reize. Sie bietet der Nie wieder Deutschland-Linken die Gelegenheit, die ausstehende Relektüre ihrer eigenen Geschichte (vgl. z. B. Kretschmer, Lupus in: diskus 1 / 99) in Angriff zu nehmen, um dabei nach den Leerstellen und Brüchen in den eigenen Konzeptionen zu fragen. Als symptomaler Ausgangspunkt kann das Auseinanderfallen der antifaschistischen Maxime Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg, mit dem eine Spaltung auch der antinationalen Linken einhergeht, herangezogen werden. Hinzu kommt die Desartikulation des Antiimperialismus als sozialrevolutionäre Ideologie mit dem Zusammenbrechen der Sowjetunion. Fasten your seatbelts, die Reise beginnt.


Golf- und Kosovo-Krieg: Verloren im (anti-)nationalen Blick

Der erste Zeitsprung führt uns zum 2. August 1990. Die so genannte Golfkrise tritt in ihre heiße Phase. Auch in Frankfurt der Startschuss für eine kurze Renaissance der Friedensbewegung. Das Aktionsbündnis gegen den Golfkrieg, getragen von Studentinnen- und Schülervertretungen, fordert die Mitdemonstrierenden zum Protest wider die »grüne Doppelmoralµ auf und tritt in Aktion. Neben solchen in die große Politik eingebundenen Reality-Erzählungen wendet sich Wetzel vor allem der Ideologiekritik der »Maskenbildner des Krieges«, der linken Kriegsbefürworter zu; speziell Hans-Magnus Enzensbergers »Hitlers Widergänger« als Blaupause der deutschen Normalisierer von links. Operationsziel: Die antifaschistische Maxime Nachkriegsdeutschlands Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg knacken, um »Auschwitz kriegstauglich zu machen« und damit Deutschland bald das militärische Mitmachen in der neuen imperialistischen Weltordnung zu ermöglichen.

Wetzels historisch-kritischer Abrechnung mit Enzensberger kann sicherlich nur wenig hinzugefügt werden. In den Erzählungen, Analysen und Statements zum Golfkrieg macht sich jedoch die Abwesenheit einer kritischen Selbstverortung in dieser innerlinken Auseinandersetzung und deren diskursiven Effekte als kaum zu übersehender

Mangel bemerkbar. So, als bewahre die ideologiekritische Versicherung mit den eignen antifaschistischen wie kritisch-antiimperialistischen Sicherheiten vor der politischen Einsicht, dass die erste Runde im Kampf um die »Weltinnenpolitik« des Neuen Deutschland an die anderen gegangen ist. Die deutsche Linke hatte sich im Golfkrieg de facto in eine diskursive Nie wieder Auschwitz-Partei einerseits und eine Nie wieder Krieg-Partei andererseits gespalten.

Bedeutsam hierfür war sicherlich der von Wetzel angeführte Vorteil, den linke Bellizisten durch die asymmetrische Medienkriegsführung realisieren konnten: Die durch filmende Bomben zum Verschwinden gebrachten irakischen Kriegsopfer standen den sichtbaren israelischen Opfern der irakischen Scud-Raketen gegenüber. Damit ist zwar ein offensichtliches Problem angesprochen aber keineswegs gelöst. Die ideologische Selbstblockade versperrte eine Reflexion und Veränderung der Antikriegsposition, was sich acht Jahre später zum letzten Mal und mit aller Deutlichkeit rächen sollte.

Dass der Kosovo-Krieg zum letzten Gefecht zwischen Normalisierern und Kriegsgegnern inner- und außerhalb der Linken würde, war auch in Wetzels Posse klar. »Ein historischer Augenblick, den wir angesichts der Abwesenheit einer relevanten Radikalopposition nutzen müssen« heißt die trotzige Parole, mit der Lupus zum Sonderparteitag der Grünen am 13. Mai 1999 mobilisiert. Dennoch kommen in Wetzels Texten zum Kosovo-Krieg erstmals Zweifel auf. Zweifel, die zwar auf halben Weg wieder abgewürgt werden, in einer Betrachtung ex post aber zu den richtigen Fragen führen können. So erklärt Wetzel die Lähmung in der Linken u. a. damit, dass die Bürger- und Sezessionskriege in Jugoslawien jahrelang »im toten Winkel linker Internationalismus-Politik« gestanden habe. Dieser Ansatz einer Selbstkritik wird jedoch mit dem Hinweis kompensiert, dass die »innerdeutschen Verhältnisse« seit der deutsch-deutschen Vereinigung das entscheidende Motiv lieferten, gegen den NATO-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zu sein. Zugespitzter kann man wohl die apolitischen Effekte eines ritualisierten Antinationalismus nicht vorführen. Dass eine Kriegsgegnerschaft, die explizit von den Verhältnissen in Ex-Jugoslawien nicht viel wissen will, keine Alternative zum Nato-Krieg aufzeigen kann und daher zum Scheitern verurteilt ist, macht Wetzel hier eher unfreiwillig klar. Die Selbstbeschränkung auf Antifaschismus konnte keine wirkungsvolle Opposition gegen die neue NATO-Kriegsführung (Bosnien 1995, Kosovo / JU 1999) etablieren, weil es die eigne Sicht auf einen nationalstaatlichen Tunnelblick reduzierte.

Dass der linke Internationalismus-Ansatz nach der Proklamation des ›4. Reichs‹ keine glaubwürdige Interpretationsfolie der jugoslawischen Sezessionskriege abgeben konnte, verwundert nicht. Denn das Neue dieser Kriege besteht eben darin, dass sie nicht in den Mustern klassischer Kriege (Heer gegen Heer) oder dem der nationalen Befreiungskriege (Partisanen gegen Heer) der postkolonialen Ära beschrieben werden kann. Die Kriegshandlungen im ehemaligen Jugoslawien richteten sich hauptsächlich gegen die Zivilbevölkerung der jeweils anderen, ethnifizierten Seite und schlossen so eine internationale Solidarisierung mit welcher Seite auch immer aus. Kurz, im Kosovo-Krieg gab's für die Antikriegslinke nichts zu gewinnen außer der nicht zu unterschätzenden Einsicht, dass Deutschland als Hauptwiderspruch und Ersatz für ein politisches Projekt nicht funktioniert.


Elfter Neunter: Der Antiimperialismus -auch der kritische - ist nicht mehr zu retten

Der Zeitsprung zu den folgenreichen Terroranschlägen vom Elften Neunten zeigt, dass auch Wetzel seine Lehren aus der Kosovo-Niederlage gezogen hat. Er tauscht den nationalen Tunnelblick gegen den eines kritischen Antiimperialismus ein.

Wetzels Zweifel am Antiimperialismus deuten sich in einer defensiven Haltung gegenüber dem antideutschen Diskussionscluster an. Dieser habe die Kritiken am Pazifismus und linken Antiamerikanismus, wie die Kritik an ökonomistischen und antisemitischen Antiimperialismen der eigenen Konzeption entwendet. »Sie haben diese aufgegriffen und zueinander in Beziehung gesetzt und damit ihren Anteil, dass bestimmte linke Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt, neu gedacht und in eine andere Praxis umgesetzt werden müssen.« Indem er die feindliche Übernahme linker Selbstverständlichkeiten durch ›die Antideutschen‹ und nicht die antiimperialistischen Kategorien selbst als Grund für ihre Infragestellung ausmacht, kann Wetzel ihnen weiter treu bleiben. Das muss umso mehr erstaunen, als er selbst zeigt, dass die Antiimpmaschine ächzt und kracht.

So arbeitet er recht überzeugend anhand der »David/Goliath-Schablone« im Israel / Palästina-Konflikt heraus, dass antideutsche Argumentationen nicht nur linksradikale Kritiken am Antiimperialismus beerbt haben, sondern sich ebenso in dessen Opferaxiomatik bewegen: Nachdem deutsche Linke bis 1967 kritiklos mit Israel solidarisch waren, schwenkten die Sympathien danach auf die ›Opfer der Opfer‹ um. Womit antideutsche Identifizierungen mit Israel »die Opferlogik nur um einen Salto rückwärts verlängern«, statt sie zu durchbrechen. Wetzel trifft damit den neuralgischen Punkt des traditionellen Linksradikalismus: In der simplifizierenden Dualität von Herrschaft und Unterworfenheit ist Politik nur als Schlacht souveräner Akteure denkbar. Den Bruch mit diesem Souveränismus fordert Wetzel praktisch ein, indem er politisch auf den Kurs des linken Spektrums der organisierten Friedensbewegung einschwenkt. Dieser besteht in einer langfristig angelegten Unterstützung jener subpolitischen Gruppen auf beiden Seiten, die sich der militärischen wie nationalistisch-religiösen Logik widersetzten.

Die Konsequenzen dieser Kritik am Antiimperialismus nehmen bei Wetzel aber eine andere Wendung: »Mit der Unmöglichkeit, sich mit den ›Opfern imperialistischer Aggression‹ zu identifizieren«, mit dem Verschwinden sozialrevolutionärer Befreiungsbewegungen sei auch der Antiimperialismus selbst verschwunden. Für Wetzel kein Grund, (Anti-)Imperialismus als zentrales Erklärungsmuster der Welt zu überwinden. An die Stelle der Opferidentifikation müsse der eigene Widerstand gegen die hiesigen Verhältnisse gesetzt werden. Mit diesem klassischen autonomen Argument gegen die Antiimps der 80er wird mit anderen Worten die David-Perspektive mit der eigenen Subjektivität aufrecht gehalten. Was Wetzel praktisch für den Nahostkonflikt formuliert, theoretisch jedoch nicht weiterdenkt, ist der Bruch mit dem souveränistischen Dualismus aus Staat und der Externalität des Widerstands gegen ihn (vgl. no spoon in: diskus Nr. 1 / 02).

Dirk Kretschmer

*.*Autonome L. U. P. U. S.-Gruppe: »Nie wieder Krieg!« (1948) - »Nie wieder Srebrenica?« (1995). In: diskus Nr. 1 / 99.

Dirk Kretschmer: Die Last der Krieger. Über den rot-grünen Kriegshumanismus und die (Un-)Möglichkeiten eines bewegten Antimilitarismus. In: diskus Nr.1 / 99.

no spoon: agent_smith service pack. Politik an der Grenze zum Empire II. In: diskus Nr. 1 / 02.

Wolf Wetzel: Krieg ist Frieden. Über Bagdad, Srebrenica, Genua, Kabul nach ..., Unrast Verlag, Münster 2002. 228 Seiten, 14 Euro.

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Contro il neoliberismo, la guerra e il razzismo«

Schon auf dem roten Ausweis, mit dem der oder die Besucherin des European Social Forum (ESF) Einlass auf das Veranstaltungsgelände erhielt, erschien der Antirassismus als Teil einer globalisierungskritischen Dreifaltigkeit. »Contro il neoliberismo, la guerra e il razzismo.« So wie bei den ersten beiden Themen, versammeln sich hinter der Opposition gegen Rassismus freilich auch eine Menge sehr verschiedener politischer Ansätze. Was auf den zahlreichen Seminaren, Vortreffen und schließlich auf der großen Versammlung der MigrantInnen deutlich wurde, war die Konzentration der gegenwärtigen antirassistischen Kämpfe in Europa auf einerseits den Kampf gegen die Abschiebezentren und andere mehr oder weniger sichtbare Symbole und Apparate der »Festung Europa« und andererseits die vielfältigen Versuche, den Kampf um Rechte entlang des Topos der Legalisierung zu führen.

Wie auf so vielen Veranstaltungen auf dem ESF, kam es auch hier nicht wirklich zu Debatten zwischen den teilnehmenden Gruppen, von denen übrigens nur sehr wenige aus Deutschland kamen (namentlich die Flüchtlingsinitiative Brandenburg, jeder mensch ist ein experte und kanak attak). Zwar waren sich alle darin einig, dass die »Festung Europa« angegriffen werden muss und dass es hierzu einer europäischen Vernetzung bedarf. Bestenfalls auf den Fluren und in Gesprächen zwischen den einzelnen Veranstaltungen aber war es möglich, die Bedingungen für so eine Kooperation zu diskutieren. Denn die traute Einigkeit der gemeinsamen Ziele bestand nur auf den ersten Blick.

Was einige ProtagonistInnen des antirassistischen Milieus kritisierten, dass nämlich das Migrationsthema auf dem Forum unterrepräsentiert sei und nur oberflächlich eine Rolle spiele, reflektiert ein Problem, das sich auch innerhalb des antirassistischen und migrationspolitischen Feldes wiederfindet. Dass gegen die »Detention Centers« zu sein, solange man nicht die Perspektive der Kämpfe der MigrantInnen einnimmt, häufig in einer bloßen humanistischen Geste endet, zeigt etwa, dass es nicht ausreicht, die vielfältigen sozialen, biopolitischen und anderen Kämpfe zu addieren. Es herrschte bei Teilen der Gruppen anscheinend die Befürchtung, eine Zuspitzung, Kritik oder der Versuch, Fokussierungen und damit auch Verbindungen zu schaffen, könnte ausschließend wirken und die Vielfalt der Bewegung in Frage stellen. Der Preis dafür ist jedoch, dass der Kampf gegen Migrationsregime und durch sie induzierte Rassismen nicht in Zusammenhang mit den sozialen Kämpfen gebracht werden konnte. Dass die »Festung Europa« aber nicht einfach das Projekt »der da oben« ist, sondern auf vielfältigen, national-sozial organisierten Kompromissen mit den Mehrheitsbevölkerungen innerhalb der EU beruht, dass der Kampf gegen den Neoliberalismus ebenso häufig mit der Vorstellung operiert, die Lösung sei in monopolistisch regulierten Nationalstaaten mit entsprechend protektionistischen Arbeitsmärkten zu finden, sind Koordinaten, die eine wirkliche Verbindung der Kämpfe zwischen AntirassistInnen und dem Kampf gegen den Neoliberalismus schwieriger machen, als diese Verbindung auf eine Karte zu schreiben.

Serhat Karakayali

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state estate.

Neuherausgabe der »Staatstheorie« von Nicos Poulantzas

Ganz offensichtlich bemüht sich die akademische Linke, dem marxistischen Staatstheoretiker Nicos Poulantzas wieder Gehör zu verschaffen. Poulantzas hatte in Absetzung von Althusser versucht, der strukturalistischen Verkürzung der marxistischen Theorie zu entkommen. Dies gelang ihm dadurch, dass er den Begriff der kapitalistischen Produktionsweise nicht allein auf die Ökonomie als vom Politischen und Ideologischen getrennten Bereich bezog, sondern auf den gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozess. Politik, Ökonomie und Ideologie sind nach Poulantzas Bereiche, die schon immer ineinander konstitutiv präsent sind und nicht als voneinander Getrenntes in Beziehung treten.

Erst aus dieser Untersuchungsperspektive heraus ergibt sich die für Poulantzas typische Verschränkung von (kapital)logischer und historischer Analyse des Kapitalismus. Der kapitalistische Staat ist logische Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise, was sich allerdings erst historisch »durchsetzen« muss und eine historisch spezifische Ausprägung erfährt. So lässt sich sein wohl bekanntestes und in Deutschland am meisten rezipiertes Werk, die Staatstheorie, als Beantwortung der Frage lesen, warum der heutige (Poulantzas schreibt Ende der 60ger Jahre) »national-populare Repräsentativstaat mit Klassencharakter« entsteht. In der deutschsprachigen staatstheoretischen Debatte steht Poulantzas jedoch lediglich für die Bestimmung des Staates als »Verdichtung eines Kräfteverhältnisses« und als Kohäsionsfaktor, der die Klassen und Klassenfraktionen in Beziehung zueinander setzt, so dass es zur Bildung eines hegemonialen Blocks unter Führung einer bestimmten Kapitalfraktion unter Einbindung und Desorganisation der unterworfenen Klassen kommt. Leider bleibt den deutschsprachigen LeserInnen (Poulantzas schreibt auf Französisch) trotz der gerade erschienen Neuausgabe die oben genannte übergreifende Fragestellung weitgehend verborgen, denn die Neuausgabe ist nur eine Kopie der bereits schlecht übersetzten ersten deutschen Ausgabe. Ein Beispiel: Poulantzas schreibt in der französischen Ausgabe von »Etat-nation« (wörtlich: Staat-Nation) und »peuple-nation« (wörtlich: Volk-Nation), die beide mit der kapitalistischen Produktionsweise entstehen. In der deutschen Übersetzung steht hier jeweils »Staat und Nation« und »Volk und Nation«. Damit bleibt Poulantzas Punkt, dass mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise Nation und Volk eine völlig neue Bedeutung bekommen, die in die kapitalistische Raum- und Zeitmatrix eingeschrieben ist und in einer besonderen Kombination dieser begründet liegt (also auch eine eigene Materialität besitzen), dem Verständnis der LeserInnen verborgen. Die Wortkonstruktionen »Etat-nation« und »peuple-nation« sind auch nicht mit den deutschen Worten Staatsnation und Volksnation einfach gleichzusetzen. Ansonsten hätte Poulantzas »Etat national« schreiben können, was er in anderem Zusammenhang auch tut. Im Französischen gibt es eigentlich das Bilden von Doppelworten mit Bindestrich nicht. Es handelt sich also um eine bewusste Wortkonstruktion, die man in der Übersetzung nicht so ohne weiteres unterschlagen kann, ohne den intendierten Zusammenhang total unverständlich zu entstellen. Die englische Übersetzung ist da sorgfältiger, die Bindestriche bleiben erhalten.

Die Neuherausgabe mit der alten nicht korrigierten Übersetzung wird also dazu führen, dass Poulantzas weiterhin nur beschränkt rezipiert werden wird. Das ist schade, denn gerade in Hinblick auf die Debatten um die Internationalisierung des Staates ist Poulantzas' Ansatz vielversprechend und weiter entwickelbar (vergleiche etwa Bob Jessops Arbeiten). Mit ihm ließe sich nicht zuletzt die entscheidende Rolle der Nationalstaaten begründen, die ihnen trotz allem Abgesang heute immer noch zukommt.

Wahrscheinlich müssen wir nach diesem Neudruck weitere 25 Jahre warten, bis eine systematische Neuübersetzung erfolgt. Bis dahin bleibt die Notwendigkeit, entweder auf Französisch oder auf Englisch zu lesen, will man Poulantzas in seinem gesamten Ansatz verstehen (Empfohlen sei darüber hinaus: »Nicos Poulantzas. Marxist Theory and Political Strategy«, Bob Jessop 1985). Die trotz allem lesenwerte Einleitung des Neuabdrucks von Demirovic / Hirsch / Jessop gibt's im Übrigen auf der Website des Verlags. Also auch dafür braucht man das Buch nicht zu kaufen.

Nico Hausmeisterin

Nicos Poulantzas: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. VSA-Verlag, Hamburg 2002.

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Perverse Studien

Als eine der berühmtesten Autorinnen der US-amerikanischen queer-studies verstand Judith Butler es vor mehr als zehn Jahren mit ihrem Buch »Gender Trouble«, Michel Foucaults Diskurstheorie radikal auf Geschlecht anzuwenden. Ihre These, dass sich die vermeintlich natürliche Biologie der Zweigeschlechtlichkeit bei näherem Hinsehen als Effekt des Sozialen entpuppt, löste heftige Debatten aus. Was als queer-studies – queer ist ähnlich dem deutschen »pervers« ein Schimpfwort gegen alles sexuell Abweichende – begann, wurde zu transgender und forderte nicht nur den heterosexuellen Mainstream in seinem trotzigen Festhalten an der Musterfamilie, sondern auch auf Abgrenzung bedachte Lesben-, Schwulen- und Transsexuellenzusammenhänge heraus.

Waren etwa Transsexuelle lange Zeit darauf gebucht, Geschlechternormen nahezu überzuerfüllen, nicht zuletzt, um den gesetzlichen Bestimmungen für die ersehnte Geschlechtsumwandlung zu genügen, so griff der queer-Gedanke auch hier über. Transgender als neuer Begriff soll das bezeichnen, was allen eigen ist, die von der heterosexuellen Norm abweichen. Transgender steht für »Räume und Denkmöglichkeiten, welche die starre Einteilung der Menschheit in ›zwei Geschlechter‹ infrage stellen«. Er stellt einen Sammelbegriff für sexualpolitische Bewegungen dar und nimmt in Anspruch, Kritikkonzept institutioneller Normen zu sein.

Eine Gruppe von Heinrich-Böll-Stipendiatinnen und -Stipendiaten, die unter dem Namen »polymorph« firmieren, treten nun mit einem Sammelband an, nicht nur die sexualpolitische Dimension von transgender zu durchleuchten, vielmehr geht es ihnen wie Butler um die Kritik gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Das Buch sucht in der Grauzone zwischen queer theory, sexualpolitischer Praxis und individueller Alltagsbewältigung nach politischen Perspektiven in der Auseinandersetzung mit starren Geschlechtsidentitäten und festgefahrenen Mustern von Sexualität. Die einzelnen Beiträge über juristische, soziologische, kulturwissenschaftliche oder künstlerische Aspekte von transgender sowie eine Fotostrecke und ein Comic kreisen immer wieder um die Frage, wie sich denn nun der politische Anspruch einer Anti-Identitätspolitik umsetzen ließe – sei es nun im großen politischen Rahmen oder einfach nur im Alltag.

Dass dies gerade im Bereich der Geschlechterpolitik nicht zu trennen ist, zeigt etwa die Institution Ehe. In ihrer Kritik der »Homo-Ehe« stellen Nina Degele, Christian Dries und Anne Stauffer in Anlehnung an Habermas eine »doppelte Kolonialisierung« durch die Erweiterung der eingetragenen Partnerschaft auf gleichgeschlechtliche Paare fest. Zum einen werden homosexuelle Paare dadurch kolonialisiert, dass sie in den exklusiven Status der heterosexuellen Norm aufgenommen werden. Zum anderen wird der Staat erneut in seiner Rolle als Instrument der Legitimierung von Partnerschaften bestätigt und damit durch die Homo-Ehe-Befürworter kolonialisiert. Nicht nur, dass die Homo-Ehe ohne vollständiges Adoptionsrecht und steuerliche Vorteile lediglich eine Ehe zweiter Klasse ist, sie führt zudem zu einer weiteren Verfestigung der Geschlechterordnung. Transgender haben aber nicht nur mit normativer Ausgrenzung zu kämpfen. Wie Britta Madeleine Woitschig zu zeigen vermag, sind geschlechtlich nicht eindeutig zuzuordnende Menschen einer extremen Klischeebildung unterworfen. Sie weist kulturhistorisch nach, wie die Kulturindustrie transgender auf drei Typen zurechtstutzt: Die »Diva«, das »Heimchen am Herd« und die »willige Hure«. Selbst moderne, als progressiv geltende Filme wie »Boy’s don’t cry« von Kimberley Peirce schreiben die Klischeebildung fort.

Der durchaus sympathische – wenn auch mit ironischem Unterton vorgetragene – Optimismus der HerausgeberInnen, die die »Blütezeit der Heterosexualität« ihrem Ende entgegen gehen sehen, mag angesichts dieser sozialen Realität verwundern. Viele Beiträge des Bandes verweisen doch gerade auf die erneute Verfestigung heterosexueller Normalitätsvorstellungen auch und gerade in einer individualisierten und vor Patchwork-Biographien nur so strotzenden Welt.

Gottfried Oy

polymorph (Hrsg.): (K)ein Geschlecht oder viele? Transgender in politischer Perspektive. Querverlag, Berlin 2002. 263 Seiten, 15,50 Euro.

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Strike a pose

Slavoj Zizeks Reformulierung des Leninismus

Schon seit einigen Jahren sorgt der slowenische Psychoanalytiker und Philosoph Slavoj Zizek mit seinem Versuch für Furore, das Werk W. I. Lenins für die Politik im 21. Jahrhundert zu recyceln. 2001 war es ihm sogar gelungen, für einen Kongress mit dem Titel »Gibt es eine Politik der Wahrheit – nach Lenin?« Fördergelder des Landes NRW in nicht unbeträchtlichem Umfang zu akquirieren, und auch in den bürgerlichen Feuilletons ist ?i?ek ein gern gedruckter Autor. Zizek ist, wegen seines akademischen Renomées, wegen seiner Rolle als osteuropäischer Exot, vom postmodernen Diskurs zu provokativen Sprechakten autorisiert – im Gegensatz etwa zur gemeinen Diskusautorin. Eine Beurteilung der Zizek’schen Schriften hat daher neben ihrer Inhalte auch die Effektivität und Angemessenheit ihrer theoriestaregischen Operationen zu berücksichtigen.

Die zentralen Elemente der Gegenwartsanalyse Zizeks sind bereits seit dem 1998 erschienen »Plädoyer für die Intoleranz« bekannt: Innerhalb des durch das Ende der Blockkonfrontation und die liberalkapitalistische Globalisierung entstandenen Paradigmas der »Post-Politik« ist all das, was legitimerweise Politik genannt werden könnte – eine gesellschaftlichen Intervention seitens bestimmter Interessensgruppen – radikal diskreditiert. Im allgemeinen wehrt man sich, so Zizek, gegen die alten »ideologischen Auseinandersetzungen zwischen rechts und links«, die politischen Akteure sind durch die Formierung eines postmodernen Konsens auf das »Verwalten gesellschaftlicher Anliegen« beschränkt. Der Bezug zu antikapitalistischer Politik wird durch eine derartige »dogmenfreie« und »pragmatische« Politik effektiv ausgeschlossen.

Gegen die Gewalt einer post-politischen Beliebigkeit projektiert Zizek nun eine neue große Geste: Die Wiederholung Lenins. Den programmatischen Charakter dieses Unterfangens expliziert Zizek im letzten Satz seines aktuellen Buches mit dem erheiternd kontrafaktischen Titel »Die Revolution steht bevor«: »Es ist der Signifikant ›Lenin‹, der eine Reihe allgemeiner Gedanken in einen wahrhaft subversiven Theorieentwurf verwandelt.« (188) Was hier als Perspektive politischen Widerstands formuliert ist, lässt sich ebenso auf Zizeks eigene Theorie beziehen: Dessen ekklektizistische Ausschweifungen, die auf eher assoziative als auf wissenschaftlich-stringente Art unter Zuhilfenahme philosophischer und literarischer Versatzstücke Hegels, Badious, Mouffes, Kierkegaards, Hitchcocks und (immer wieder) Lacans Fragen nach der Liebe, des Christentums, des 9. 11., der Anzahl der Hamburger Bahnhöfe u. v. m. streifen, werden erst durch den performativen Bezug zur Politik des Leninismus zur Antipode kaptitalistischer Realität. Dabei setzt die Indienstnahme des »Signifikanten Lenin« genau die Intergationsfähigkeit hegemonialer Post-Politik voraus, die Zizek so verzweifelt zu bekämpfen versucht: Erst die Tatsache, dass »Lenin« seines ursprünglichen Signifikats – autoritäre, spießige, repressive Politik – beraubt wurde resp. in Vergessenheit geraten ist, ermöglicht eine Art »unfriendly takeover« der Lenin’schen Geste seitens radikaldemokratisch informierter Kräfte. Insofern ist Zizek kein »authentischer« Leninist, vielmehr geht es ihm darum, emanzipatorische Forderungen mit leninistischer Verve gegen das postpolitische Paradigma in Anschlag zu bringen: »Lenin wiederholen heißt akzeptieren, dass ›Lenin tot ist‹, dass seine Lösung gescheitert ist, sogar fürchterlich gescheitert ist, aber dass darin ein utopischer Funke war, der es wert ist bewahrt zu werden.« (187)

Zizek hebt daher Lenin im hegelschen Sinne auf: Er bewahrt dessen strategische Operationen, terminiert aber gleichzeitig ihre tragischen Implikationen, in dem er sie unter radikal veränderten Bedingungen reformuliert. Dieser Zug lässt sich anhand Zizeks Vereinnahmung der Lenin´schen These exemplifizieren, wonach der Weg zum Sozialismus durch das Stadium des Monopolkapitalismus führt. Während Lenin kapitalistische Banken wegen ihrer bürokratischen Buchführung für anschlussfähig an das sowjetische System hielt, sieht Zizek diese Funktion heute vor allem im Internet gegeben. Insofern wäre die Zentralbank eine Art Internet avant la lettre: Man »könnte (...) sagen, dass Lenin tatsächlich eine Theorie der Rolle des World Wide Web entwickelte, aber sich bedauerlicherweise auf die Zentralbank beziehen musste, da es das WWW damals noch nicht gab.« (128)

Doch ebenso, wie die Che-Guevara-Swatch die revolutionäre Symbolik des berühmten Konterfeis nicht einfach liquidiert, weil die Vermarktung linker Ikonen ohne eine zumindest basale Konnotation derselben mit bestimmten Inhalten gar nicht funktionieren würde, enthält auch der »Signifikant Lenin« Rudimente seiner ursprünglichen Bedeutung. Die Forderung, Lenin zu wiederholen, ist daher nicht lediglich Marketing des Aufrufs zu neuem Anspruchsdenken oder der Warnung, nicht das Ganze aus dem Auge zu verlieren, sondern auch eine materiale Intervention in aktuelle Diskurse sozialer Bewegungen. Zizek hält sowohl die »fetischistische Fixierung auf den alten marxistisch-leninistischen Rahmen« der Arbeiterklasse als Katalysator gesellschaftlicher Veränderung als auch die gegenwärtigen Strategien der nicht-orthodoxen Linken wie etwa »die Akzeptanz der kulturellen Kriege (feministische schwule, antirassistische u. a. multikulturalistische Kämpfe) als des beherrschenden Felds emanzipatorischer Politik« für Kennzeichen »der traurigen Lage der heutigen Linken« (185, vgl. auch 18). Die Frage, welche Elemente Lenin’scher Politik der heutige Bezug auf den Signifikanten Lenin genau enthalten soll, um diese beiden Arten der »Vermeidung der Anstrengung, das Neue zu denken« zu umgehen, bleibt in dem Buch merkwürdig dunkel – wahrscheinlich, weil Zizek jede klassifikatorische Definition als Konzession an hegemoniale diskursive Regeln zurückweisen würde. Besonders akut wird die Existenz solcher blinder Flecken beispielsweise bei Zizeks Ausführungen zur Demokratie, die er als politisches Komplement der ökonomischen Form des Kapitalismus denunziert: Nach Zizek »besteht das Problem der Demokratie darin, dass sie in dem Moment, in dem sie als ein positives formales

System etabliert ist (...) einige Optionen als ›nicht-demokratisch‹ ausschließen muss, und diese Ausschließung (...) ist nicht demokratisch.« (167f.) Zwar kritisiert Zizek hier die Demokratie im Namen der Demokratie, da er aber systematische Ausschließungen für konstitutive Bestandteile demokratischer Politik hält, wird systematisch verunklart, ob diese Tatsache Anlass für die Suche nach alternativen Formen der Demokratie (etwa im Sinne einer Derrida’schen democratie à venir) ist oder ob sie einen Persilschein für die Ausübung revolutionärer Gewalt darstellt.

Wer Anstoß nimmt an theoretischen Inkonsistenzen, politischen Inkorrektheiten wie dem ständig latenten Hauptwiderspruchsdenken und der damit einhergehenden Diskreditierung feministischer oder antirassistischer Ansätze, an der fehlenden Stringenz oder an historischen Ungenauigkeiten, wird bei der Lektüre von »Die Revolution steht bevor« klarerweise genügend Anlässe finden, sich zu ärgern. Wer jedoch eine ähnliche Perspektive auf Zizek einnimmt wie dieser auf Lenin – ihn als Impulsgeber für die eigene politische Praxis produktiv zu machen – kann sein Buch als reichhaltigen Fundus erfrischend dogmatischer Gedanken nutzen. Nur Menschen, deren Herzen kalt sind wie Stein, entlockt jedenfalls der Tatbestand, dass heute die radikalste aller denkbaren Gesten des Dagegen-Seins Zustimmung in der FAZ erfährt, nicht wenigstens ein Lächeln, sei’s der Verzweiflung, sei’s der Hoffnung.

Daniel Loick

Slavoj Zizek: »Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin.« Frankfurt am Main 2002 (188 S., 9 Euro)

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Schließung des AStA KFZ-Referats

Die seit 1982 von der Studierendenschaft betriebene und bei Studierenden wie Nicht-Studierenden sehr beliebte Autovermietung soll nach dem Willen des grün-roten AStA-Vorstandes und mit Billigung des Studierendenparlamentes ab 28. 02. 2003 nicht mehr weiterbetrieben werden. Der AStA-Vorstand führt dabei in erster Linie betriebswirtschaftliche Verluste und eine angeblich vom Landesrechnungshof geforderte Schließung an. Dass das KFZ-Referat eine wichtige soziale Funktion für die Studierenden erfüllt, scheint hier keine Rolle mehr zu spielen. Abgesehen von den günstigen Preisen der AStA-Autovermietung ist es hier auch ohne Vorlage einer Kreditkarte oder Hinterlegung einer sehr hohen Kaution möglich, einen Wagen für den Umzug zu mieten. Gerade für ausländische Studierende, die in aller Regel nicht über derartige Sicherheitsnachweise verfügen, ist dies aber oft die einzige Möglichkeit, einen Wagen zu bekommen. In seinen Veröffentlichungen verweist der AStA-Vorstand zwar darauf, dass ein »ähnlicher« Service auch durch die Kooperation des AStA mit »externen Partnern« zu erreichen sei, geht aber leider nicht auf die damit verbundenen Probleme ein und bewirbt bereits eine Kooperation mit Carsharingpartnern des RMV. Die in diesem Zusammenhang auf den Internetseiten des AStA Verkehrsreferenten veröffentlichten Preise sind dabei jedoch höher als vergleichbare Tarife des KFZ-Referates.

Erstaunlich nicht zuletzt die Art und Weise, wie AStA-Vorstand und Geschäftsführung mit den betroffenen Mitarbeitern umgehen: Nicht nur dass der gewählte Personalrat nicht zu den Kündigungen gehört wurde, wird jetzt, nachdem dieses Versäumnis erkannt wurde, einfach versucht, ihm die Legitimation abzusprechen.

Wie sehr dem AStA-Vorstand vermutlich bewusst ist, dass das KFZ-Referat eines der auf dem Campus am wenigsten umstrittenen Projekte ist, zeigen seine Versuche, diese Debatte aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten. Mit der Begründung, es handele sich bei der Schließung des KFZ-Referates um eine Personalangelegenheit, wurde die Öffentlichkeit währende der Verhandlung des fraglichen Tagesordnungspunktes von der Sitzung des Studierendenparlamentes am 11. November ausgeschlossen.

Es wird für den Erhalt des KFZ-Referates mit entscheidend sein, dass die engagierte Öffentlichkeit politisch auf Vorstand und Studierendenparlament einwirkt, diese Entscheidung rückgängig zu machen.

Bella Van Coche

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com.une.farce sagt tschüss!

www.copyriot.com/unefarce

Zum Ende des Jahres 2002 hat die Redaktion des Internet-Magazins com.une.farce die Arbeit am Projekt farce eingestellt. Die Webseite wird mit kleinen Änderungen als Archiv erhalten bleiben, [newsgroup], die Mailingliste der farce, wird ebenso weiter bestehen.

Eifrige BesucherInnen der Webseite mag dieser Schritt aufgrund der immer seltener werdenden updates nicht sonderlich verwundern. Anläufe der Redaktion, neue Diskussionen zu eröffnen, neue Beiträge zu organisieren oder einfach nur die Webseite aktuell zu halten verliefen immer öfter im Sand. Auch der Abschied vom an Printmedien angelehnten Heftkonzept hin zu "in progress"- Ausgaben, deren unabgeschlossener Status eine netzgemäße, kontinuierlichere Arbeitsweise gewährleisten sollte, brachte nicht den erhofften neuen Schwung. So erklärt sich aus den Entwicklungen des letzten Jahres der Schritt, das Projekt farce nach fünf Jahren, sechs Ausgaben mit etwa fünfzig bis sechzig Beiträgen, unzähligen Debatten, spannenden Auseinandersetzungen, aber auch Distanzierungen und Austritten aufzulösen.

Zurück bleibt keine zerstrittene Redaktion, vielmehr eine, die sich nach fünf Jahren gemeinsamer Arbeit in zum Teil prekären Verhältnissen wiederfindet, in denen es eben nicht mehr wie noch zu Studi-Zeiten möglich ist, mal ein paar Tage ganz dem politischen Hobby zu widmen. Ob freiberuflich, angestellt oder arbeitslos, mit Kind und ohne Kinderladenplatz, viele aus der farce-Redaktion fanden vor lauter Alltag nicht mehr die Zeit für die Redaktionsarbeit. Ausserdem gab es immer wieder Probleme, die redaktionelle Arbeit über eMail zu kommunizieren. Jede neue Ausgabe der farce, jeder Entwicklungsschritt des Projekts konnte nur durch ein face-to-face-treffen angeschoben werden. Dazwischen gab es oft über Monate hinweg Stillschweigen.

Schließlich gab es auch verschiedene Auffassungen über die Inhalte und die Bedeutung von redaktioneller Arbeit, die immer wieder miteinander in Konflikt geraten sind. Die Unvermittelbarkeit der verschiedenen Auffassungen von Redaktionsarbeit führte zur partiellen Lähmung der Redaktionskommunikation. Aus dieser Lähmung konnten wir uns dieses Jahr schließlich nicht mehr befreien.

Die farce hat allerdings auch Räume geöffnet. Gaben wir 1998 als eines unserer Motive zur Zeitschriftengründung auch die Unzufriedenheit mit dem existierenden deutschsprachigen linksradikalen Blätterwald an, so ist diese Unzufriedenheit heute zwar nicht verschwunden, es können allerdings einzelne neue Projekte durchaus auf Diskussionen und Anregungen der farce zurückgreifen. Inwieweit Publikationen und Initiativen wie Subtropen, Fantomas, links-netz, no spoon, Living Trekism, zatopek oder le tryk die gleiche Programmatik wie wir verfolgen, soll an dieser Stelle nicht geklärt werden. Sie sind allerdings Beispiele für das Bedürfnis nach undogmatischer, offener Diskussion über linksradikale Theoriebildung und die Frage nach politischem Handeln. Einem Bedürfnis, dem auch die farce in den letzten fünf Jahren gerecht werden wollte.

Sicherlich muss sich die farce auch den Vorwurf gefallen lassen, an Offenheit ermangelt zu haben. Einer der Schwerpunkte der farce war die Debatte um mentale/immaterielle Arbeit. Über die Jahre gab es hier spannende Debatten, einige vermissten jedoch den Blick über den postoperaistischen Tellerrand. Zu heftigen Kritiken führte zudem das mangelnde Verständnis für feministische Theorien und Praxen. Wir sind allzu oft daran gescheitert, kritische Anmerkungen aufzunehmen und Distanzierungen zu verarbeiten.

Eine Redaktion wie die zuletzt übrig gebliebene, der es nicht mehr gelang, eine lebendige Diskussion untereinander aufrecht zu erhalten, sollte den Laden besser dicht machen. Wir haben diesen Schritt kürzlich beschlossen. Als Werkzeugkiste mag das farce-Archiv allemal noch dienen. Dies ist auch eine Einladung, weiter darin zu stöbern und sich zu bedienen.

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit über all die Jahre,

Redaktion com.une.farce im Dezember 2002

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Macht und Ohnmacht der Hilfe

Eine Konferenz von medico international über die Zukunft der humanitären Hilfe

In der »postsozialen Welt« wird den Verlierern der Globalisierung Hilfe in einem Akt der Gnade und der Willkür zuteil. Sie ist der Kitt, der die fragmentierte Welt zusammenhalten soll. Humanitäre (Not-)Hilfe löst tendenziell jedes langfristige, entwicklungspolitische Handeln ab. Nicht mehr strukturelle Veränderungen sind das Ziel, sondern das schnelle und medial verwertbare Zeichen. Eine Hilfe, die häufig mehr schadet als nutzt. Die humanitären Hilfsorganisationen müssen deshalb ihre Rolle selbstkritisch hinterfragen. Dafür möchte medico international auf der Konferenz ein Forum bieten.

Die Konferenz untersucht die gesellschaftliche Funktion von Konzepten und Begriffen wie »Hilfe«, »Opfer« und »Katastrophe«, um der fortschreitenden Instrumentalisierung von Hilfe Einhalt zu gebieten. Hilfe ist Teil von sozialer Verantwortung, die es zu verteidigen und neu zu definieren gilt - eine andere Hilfe ist möglich und notwendig.

28. -29. März 2003, ab 19.00 Uhr im Kasino des IG-Farben-Gebäudes, Grüneburgplatz 1, Universität Frankfurt am Main

Nähere Informationen unter:

http://www.medico.de

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Kriegs- und Friedenslogik

26. BUKO-Kongress, vom 6. - 9.Juni 2002 in Bremen

Krieg liegt in der Luft. Sollte einmal eine Chronik dieses angekündigten Krieges geschrieben werden - wie lang wird das Kapitel zu »Die Linke in Deutschland und der Krieg« wohl werden? Ausführlich und theoretisch, die Widerstandsformen und Debatten wiedergebend? Oder kurz und bündig, da die Linke in dieser Frage ohne Bedeutung blieb?

Vielleicht geht ja beides. Mit dem nächsten Jahreskongress der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) an Pfingsten (6. - 9. Juni 2003) in Bremen wollen wir versuchen, Praxisformen zu entwickeln und Debatten zu ermöglichen, die sich der Kriegslogik entgegenstellen.

Damit knüpfen wir an die Initiativen des Münchener Kongresses »Antikapitalismus globalisieren – gegen die NATO-Kriegspolitik« vom 10. bis 12. Januar diesen Jahres in München an, wo viele hundert Aktive und Interessierte mit dem Ziel zusammenkamen, die Antikriegs- bzw. Friedensbewegung mit einer internationalistischen globalisierungskritischen Bewegung zusammenzubringen, die Militarisierung der Politik der rot-grünen Bundesregierung zu denunzieren und Möglichkeiten auszuloten, sich einem Krieg gegen den Irak entgegenzustellen.

Der BUKO-Kongress im Juni wird womöglich in eine Nachkriegszeit fallen, in der es notwendig sein wird, über die Situation im Irak und der Region und über die Erfolge und Misserfolge der Aktivitäten gegen den von der BRD unterstützen Angriffskrieg der USA / NATO zu diskutieren, und schließlich über politische Perspektiven zu debattieren.

Der jährliche Kongress der Bundeskoordination Internationalismus (früher: Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen) ist wieder zu einem zentralen Ort für eine radikale Linke in Deutschland geworden. Einmal im Jahr kommen hier entwicklungspolitische Gruppen, internationalistische Initiativen, Zeitschriftenprojekte und Kampagnen zusammen, um sich zu treffen, Kontakte herzustellen, miteinander zu diskutieren, voneinander zu lernen und sich gemeinsam zu organisieren. Perspektiven eines radikalen Widerstandes gegen Militarisierung und globalisierte kapitalistische Ausbeutung müssen immer wieder neu gefunden und reflektiert werden.

In der Vorbereitung des 26. BUKO-Kongresses sind neben einigen Einzelpersonen und BUKO-Mitgliedsgruppen die bundesweite Organisierung Krieg ist Frieden (KIF), das Antipatriarchale Netz Berlin und Teile des Crossover-Zusammenhanges vertreten. Die Vorbereitung ist grundsätzlich für interessierte Gruppen offen.

Wir sind überzeugt, dass eine Beschäftigung mit dem Thema Krieg und Frieden zu kurz fasst, wenn sie nicht grundsätzlich und konzeptionell antipatriarchale und antirassistische Positionen mit einbezieht. Dieses Thema kann nur dann sinnvoll aus einer linksradikalen Perspektive heraus diskutiert werden, wenn wir beispielsweise nicht nur fragen, was Wirtschaftssysteme ›hier‹ mit den Kriegen ›dort‹ zu tun haben, sondern auch danach fragen, wie Kriegslogiken auch mit unseren Denkweisen, unserem Alltag und in unsere Lebensweise verwoben sind.

Wie jedes Jahr wird es auch ein spannendes Kulturprogramm, coole Parties (in der Mehrzahl, jawohl!) und über das Kriegsthema hinaus zahlreiche andere Themenbereiche zu Internationalismus und Globalisierung geben.

Aktuelle Infos entnehmt bitte der Website www.buko.info

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