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unerkannt _anerkannt

judith butlers ethik-projekt

»wow, du hast tatsächlich mit ihr gesprochen ...! dafür schenke ich dir meine einzige handtasche.«
[... so Frauke zu Hans in Thomas Meineckes Roman Tomboy, nachdem er in einem Butlervortrag in den späten Neunzigern eine Frage an j. b. gerichtet hatte]

Eine Poststrukturalistin, der über Adorno doziert? Eine Philosophin, die eigentlich Rhetorik lehrt? Ein Popstar, der gerne über Politik spricht? Eine Kämpferin, die radikal identitäre Kategorien und die ihnen inhärenten Zwangsverhältnisse ablehnt und doch time after time über sie konstituierende Dinge wie ihre »jewish education« erzählt? Soweit wir wußten, wollte j. b. in Frankfurt Vorträge über die ethische Gewalt halten; das schien ziemlich unerhört zu sein: Braucht sie dafür nicht irgendeine Form von normativer Grundlage? Und ist es nicht gerade Judith Butler, die so was ablehnt? Meine Welt war aus den Fugen geraten... Wie kann sich ein radikal politisches Projekt auf Ethik einlassen, die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, herrschaftsstützende Ideologien zu produzieren? Wie ethische Aussagen treffen, wenn mensch die Festschreibung von Universalität bekämpft?

Die Gelegenheit war günstig: Denn Judith Butler war »in town«, und sie hatte sich mit einer Gruppe von Studentinnen auf ein Treffen geeinigt, wie sie es ungeachtet ihres Status als Professorin und king o´ the scene bisweilen zu tun scheint. Sie während ihrer Präsenz über einige dringende Probleme zu befragen, schien mir als »irgendwie-schon«Feministin und Freizeitphilosophin zumindest angebracht. Gefragt habe ich sie dann doch nicht, dafür die Chance auf eine persönliche Antwort verpasst. Aber wieso? Weil sie eine Autorität ist? Gibt's vielleicht Themen, die zu komplex sind, um auch nur klug danach zu fragen? (Darf ich Frau Butler auch eine dumme Frage stellen?) Aber als wen adressiere ich sie dabei? Und wozu mache ich mich selbst? Die Situation wuchs mir über den Kopf: kaum möglich, in der Frage nach ihrer Position (fem_post_1993) all den identitären Zuschreibungen zu entkommen! Und überhaupt: Autoritäten ... Zuletzt habe ich mich wie Münchhausen selbst am Schopf aus dem Sumpf gezogen – im »freiwilligen« Verzicht. Kann ich denn auch von einer Rhetorikerin mündlich eine bessere Antwort erwarten, als sie in ihren Umfang reichen Schriften leistet? Ich schwieg also und ging dann (wie alle aus der »posse«) in die Adorno Lectures, hörte mir an, was sie zu sagen hatte, schrieb mit, las die Vorträge, suchte nach zusätzlichen Texten, diskutierte, telefonierte, kopierte, machte mir ein Bild, und versuchte zu kapieren, was Ethik für die Politik bringen kann. Die Frage, die mir auf der Seele brannte, stellte ich mir selbst: Wieso, zum Teufel, versucht ausgerechnet Judith Butler sich an Ethik? Was ist damit gewonnen? Was alles zu verlieren? (außer der Handtasche ... aber mir schenkt ja eh keiner so was.)


»does a return to ethics constitute an escape from politics?«
etliche ethische ambivalenzen vorweg

Bringt mich / bringt uns eine Beschäftigung mit Ethik von meinem politischen Projekt ab, stürze ich mich auf die falsche Gegnerin? Die gängigen Verknüpfungen zwischen beiden funktionieren wirklich ein wenig so: Ethik depolitisiert. Die Beschäftigung mit Ethik würde also kein »Politisches« übrig lassen? Wenn »Ethik« auf dem politischen Feld eingesetzt wird, geht´s oft um eine ideologische Legitimation politischen Handelns. Das verschiebt die Ebene, auf der diskutiert wird. In der Rede von den »Werten« liegt eine Sinnhaftigkeit für die Einzelnen, die den »Macht«diskurs aussetzt und eventuell gewisse Interessen des Allgemeinen verschleiern hilft: so wär´s vielleicht ganz erhellend, sich die Rolle des »Nationalen Ethikrates« für die Durchsetzung neuer biopolitischer Interessen anzuschauen.

Dient Ethik dazu, Politik auf der Subjektebene plausibel zu machen, so kann sie das nur leisten, wenn gewisse Maximen, derer sie sich bedient, schon im Individuum verankert sind: »jede muss schließlich selbst wissen, was gut und böse ist...«, weiß das moralisch individualisierte Selbst und handelt danach, so gut es kann. Sich im privaten Bereich seiner »persönlichen« Moral unterstellend, gaukelt bürger sich die Autonomie vor, die ihm durch seine politische Verwaltung öffentlich vorenthalten wird, denn die Vorgaben, denen der Moralist sich unterstellt, betrachtet er als selbstgesetzte, schlimmstenfalls als ewige, einem höheren Sollen verpflichtet.

Mehr noch: Sich in Bezug auf einen Verhaltens-kodex als ethisches Subjekt herauszubilden, heißt, sich überhaupt als (moralisch) kohärentes, autonomes Selbst zu stilisieren. Und der Übergang zur Tugend: wenn ich beim Befolgen einer Anweisung die Gründe dafür nicht nur verstehe, sondern sie mir selbst formuliere und sie schließlich zu meinen eigenen mache, wird staatsbürgerlicher Gehorsam zur »Tugend« (kritik?_2002). Damit mache ich mich als Einzelne beherrschbar und unterstelle mir gleichzeitig die Fähigkeit zu autonomem Handeln.

Politik wird also auf dem ethischen Feld gemacht und bedient sich moralischer Begründungen – und gerade darin liegt die stärkste Motivation zu einem Gegenprojekt: die korrumpierende Verbindung mit der Politik nämlich besteht. Mensch scheint nicht umhin zu kommen, sich in die aktuellen moralischen Diskurse einzumischen, und zwar nicht mit dem abgrenzenden Urteil (»Ethik ist doof«), noch darin, durch das Einmischen noch (s)ein Scherflein beizutragen. Eher müsste es darum gehen, Erkundigungen einzuholen, wie es möglich sein könnte, »eine neue Praxis von Werten«(kritik?_2002), einen produktiven Gegendiskurs zu eröffnen; eher muss da etwas anderes entstehen. Aber läuft das keine Gefahr, eigene ethische Maßstäbe für ein anderes »richtiges« Handeln zu setzen? Denn letzten Endes agieren wir doch weiter auf einem Feld voller moralischer Fallstricke, die umgangen werden wollen. die butlersche Gedankenspur aufnehmen _ die diverse AutorInnen unseres Vertrauens hinzuzieht _ diverse ethische Grundlegungen und Praxen demontiert: das ethische Urteil _ den Moralismus _ das Gewissen _ die zu verteidigenden Werte als universell gesehene... und vielleicht gelingt es, ein eigenes ethisches Gegenprojekt aus diesem Klotz Moral herauszuschnitzen, etwas zu finden, das – vielleicht – zu einer anderen sozialen Wirklichkeit führen kann...


»the absolute evil...«
moralisten moralismen moralisches urteilen

Wogegen j. b. sich wendet, zeigte sich in den Diskussionen, in denen sie sich über die Reaktionen auf den »11. September« sprach. In dieser konkreten historischen Situation scheint sie die Notwendigkeit zu sehen, ihren politischen Einsatz gerade im moralischen Feld zu bringen.

Jener aktuelle Aufschwung und Anstieg des Moralismus manifestiert sich im derzeitigen Diskurs; es scheint der zu sein, der solch kategoriale Urteile wie »Achse des Bösen« fällen und ihre Legitimation aus unverrückbaren ethischen Prinzipien ableiten kann; der das Wahre, Gute, Mutige verteidigt; der fern aller Dilemmata klar für sich entscheiden kann, wer oder was das Böse ist – aus einem Universalitätsanspruch heraus, der tief in der eigenen, weißen, westlichen Welt wurzelt ... Die Rede vom »Kampf gegen das Böse« mobilisiert gerade faktisch zu Kriegsvorbereitungen, und sie basiert auf einem moralischen Urteil: Da hat jemand etwas »Falsches« getan, und weiter: deswegen ist er »böse«.

j. b.: »kennt ihr die Darstellungen mit Bin Laden als ›das absolute Böse‹? Die Friedensbewegung hat dieses Bild mit dem Kopf von Bush überblendet und benutzt es als Plakat auf ihren Demonstrationen. Twice wrong, dachte ich mir da.«

Eine Kritik an solchem Urteilen kann sich aus einer Kritik an den Gewaltverhältnissen speisen, die sie ins Werk setzen – der ontologischen Differenz zwischen Urteilendem und Beurteiltem, die sich nicht erst auftut, sobald »vernichtende Kritik« betrieben, die Adressierung zur Anklage wird, sondern die auf der Herstellung jener »deutlichen moralischen Distanz« fußt, die im Urteil über Personen allemal angelegt ist. Hier misst ein moralisch kohärentes Selbst ein anderes anhand seiner Maßstäbe...

j. b.: »having committed a crime doesn´t mean being a criminal.« »having committed a terrorist act doesn´t mean being a terrorist.«

Dabei braucht aus einleuchtenden Gründen schon gar nicht mehr über irgendeine mögliche Richtigkeit des Urteils gesprochen zu werden – die setzt der Moralist voraus, und sie ist immer auf seiner Seite. Adorno würde dazu sagen, das »wahre Unrecht« sitze eigentlich immer »an der Stelle, an der man sich selber blind ins Recht und das andere ins Unrecht setzt« (ad_lec_2002). Das heißt nun wirklich nicht, dass es weniger gewaltsam wäre, das andere auf Grund eines wie auch immer gerechtfertigten Normenkatalogs ins Unrecht zu setzen als es aus der überwältigenden eigenen moralischen Reinheit heraus zu tun. Urteilen scheint eher immer blind zu sein, wo es bedeutet, jemanden »unter eine bereits konstituierte Kategorie zu subsumieren« (kritik?_2002), ohne nach dem Feld der Kategorien selbst zu fragen.

Zugegeben: die herkömmliche »Ethik« betätigt sich hauptsächlich im Fällen und Rechtfertigen von Urteilen, und die ist noch nicht ganz zu verwerfen; aber auch, wenn jene »natürlich Teil des ethischen Feldes sein« könnten: »Nicht alle ethischen Beziehungen lassen sich auf Urteilsakte reduzieren«, meint j.b. Die allgemeine Notwendigkeit von Urteilen im persönlichen und politischen Leben mal gar nicht bestritten, scheint es ihr aber doch um jene ethischen Beziehungen zu gehen, die sich nicht auf Urteilsakte reduzieren lassen: Es geht um die »ethische Reflexion über die Menschlichkeit des Anderen«, und die ist erst unter der Voraussetzung des aufgeschobenen Urteils möglich (ad_lec_2002). Dieser Aufschub ermöglicht das Erfahren der Anderen statt ihrer Aburteilung (auch, wenn sie noch so »anders« sind). Ich erfahre vielleicht, wie eineR »menschlich« ist, wenn ich das Urteil über sie / ihn aussetze, statt gleich zu behaupten, ich wisse eh Bescheid. Das Zwischenmenschliche gewinnt so vielleicht jenen prozesshaften Charakter zurück, den das momentane Urteil verleugnet, das die Anderen (gewaltsam) auf einen Begriff bringen, identisch machen, will.

Das zu hinterfragen bedeutet den wie auch immer gearteten Versuch, ethische Verbindungen zwischen Menschen anders zu denken als über richtig und falsch, sich nicht auf Gesinnung oder Überzeugung zu verlassen, und das Selbst nicht zur Grundlage und zum Maß des moralischen Urteils zu machen. Schließlich, nicht zu meinen, durch richtige Anwendung seiner praktischen Vernunft zu einem sich selbst vollständig bewussten, moralisch kohärenten Subjekt werden zu können, zu einem selbstidentischen Subjekt überhaupt, das durch getreues Befolgen des eigenen Gewissens immer das »Richtige« tut und aus dieser Position heraus Andere richten kann: denn so wird der »Moralist zum Mörder«.(ad_lec_2002)


»are you betraying [us]?«
genealogie der moral aus verletzungen: rache oder strafe oder was sonst?1

Ein ethisches Problem, das auch Butler nicht so ohne weiteres lösen kann, ist der Umgang mit Verletzung. Das Beispiel, an dem sie sich am Anfang ihrer philosophischen Karriere abgearbeitet zu haben scheint, ist jene ethische Praxis, die sich in den jüdischen Communities der Überlebenden des Holocaust und ihrer Nachfahren in Nordamerika entwickelt hat – aus der Matrix der deutschen Judenvernichtung. Der Knoten bleibt in diesem Extremfall unauflösbar bestehen: Jene »hyperethicality« (eth_amb_1999) versucht, die unfassbaren Ereignisse zu verarbeiten oder kompensieren, ohne zu Gewalt zu greifen, und verfällt dabei in ein lähmendes Moralisches. Als Reaktion auf die Unfassbarkeit der Ereignisse fundiert dieser Diskurs ein höchst wachsames Auge auf jede Art von ethischer Verfehlung, um sich selbst nichts zu schulden kommen zu lassen.

Auf diesem Geflecht aus Gewalt, Verletzung und schmerzhaftem Erinnern läßt sich vielleicht nur leben, wenn moralisches Verhalten, Treue, Solidarität innerhalb der Gruppe hoch bewertet werden: einzig sie gibt psychologischen Halt. Und nur das Beharren auf der einer gesteigerten moralischen Integrität verhilft zu psychischem Überleben und der Hoffnung, vielleicht »eine bessere Welt« für die Zukunft zu schaffen.

Rache zu üben, wäre unvereinbar mit den ethischen Werten aus den eigenen Gewalterfahrungen; wollen die Opfer nicht zu Tätern werden, müssen sie aus dieser Spirale aussteigen und versuchen, auf einer anderen Ebene weiterleben. Auch vergessen, ist keine Alternative, zu tief ist alles ins Gedächtnis eingebrannt. Und das unausweichliche Erinnern ruft jeweils die erfahrene Ohnmacht auf den Plan, die weder rückgängig zu machen, noch produktiv zu wenden ist. Erlittene Gewalt ist eben nicht durch Wiedergutmachungen und Entschuldigungen aus der Welt zu schaffen, und auch nicht durch Strafen: »Institutionen der Bestrafung und Einsperrung sind verantwortlich dafür, das Leben derer derer zu stützen, die in sie eintreten, weil sie eben die Macht haben, Leben im Namen der ›Ethik‹ unangefochten zu beschädigen und zu zerstören.« (ad_lec_2002)

Butler löst das Paradoxon dieses Beispiels nicht auf. Nicht zu versuchen, die Hilflosigkeit aus der erlittenen Verletzung mittels Gegengewalt oder Moral aufzuheben, hieße, ihr machtlos gegenüber zu stehen. Hier scheint ethisches und sogar gesteigertes ethisches Verhalten und Urteilen die einzige Möglichkeit für die Betroffenen zu sein – und ist doch eine moralische Sackgasse.

Wenn alle einfach so täten, was sie sollten, gäbe es ja keine Probleme... Subjekt zum Gewissen: »Was soll ich tun?« Gewissen: »Wende dich da vertrauensvoll an mich...«

Geht es Butler nun darum, Gewalt zu verhindern? Letzten Endes ja. Aber nicht durch die Etablierung eines »Gewissens«. Aber wie Leute dazu bringen, sich »menschlich« zu verhalten, wenn frau sie weder durch Gewalt noch Gesetze noch Ethik noch Nächstenliebe zwingen mag? Wenn es ohne die Einsetzung von Normen für »menschliches«/»ethisches« Verhalten gehen soll? Überwachen dann alle alle? Alle sich selbst? Und wonach? Nein, die Frage ist vielmehr die, inwiefern Verantwortlichkeit sich »freiwillig« begründen läßt, ohne auf eine Gewissensinstanz bauen zu müssen... und sie muss unter dem Blickwinkel gestellt werden, dass mein Handeln für immer andere relevant ist oder werden kann.


»it´s not possible not being affected«
(über die unmöglichkeit, nicht von anderen »betroffen«, berührt, verletzt zu werden)

Der Anspruch auf Glück, Freiheit oder Sicherheit? Die Möglichkeit dazu? Verfassungsmäßig garantiert gar? – »I am not a philosopher of freedom«, sagt Butler. Statt dessen spricht sie drei Abende lang von Verantwortung, Verletzung und gegenseitiger Rechenschaft: Selbst du musst zulassen, dass du es nicht verhindern kannst, dass von anderen Bezug auf dich genommen wird (being affected by others), sagt sie zum Mächtigen, das passiert ständig, egal, ob absichtlich oder nicht; und selbst, wenn es aus böser Absicht passiert, bist du für deine Reaktionen darauf verantwortlich. Du kannst keine absolute Sicherheit für dich herstellen und du hast keinen größeren Anspruch darauf als andere, nicht verletzt zu werden, und deine Prinzipien sind keine universellen.

Ethik aus der Sicht der Betroffenen, der Verletzten? Ja, denn alle sind betroffen und verletzlich. Auf alle kann Bezug genommen werden. Die verletzende Anrufung als Subjekt ist in jedem sozialen Akt impliziert: von Anfang an durch Andere strukturiert und adressiert zu werden, ihnen ausgeliefert zu sein, und nicht, sich zu verteidigen, zu wollen, zu handeln, konstituiert uns letztlich. So gründet unsere Sicherheit auf unserer Verletzbarkeit und unser Wissen auf unserer konstitutiven Undurchsichtigkeit. Und so hält uns paradoxerweise gerade die Unerfüllbarkeit unserer »Begierde zu sein« am Leben, immer eingefordert statt einmal erlangt: »do not seed upon your desire«, sagt sie mit Lacan, du musst das Begehren begehren, steck´ es nicht auf.

Dass unsere ganze Undurchsichtigkeit nicht jede Form von Handlungsfähigkeit und Verantwortlichkeit ausschließen darf, folgt daraus, dass irgendwie für alle physisches und psychisches Überleben in dieser Welt möglich sein muss. Im Anschluss an Hegel vertritt Butler in den Adorno Lectures ein Projekt wechselseitiger Anerkennung: der Andere ist wie ich, erkennt er mich an, so erkennt er auch sich in seiner Gleichheit zu mir. (Das macht beide glücklich und darüber hinaus zu gesellschaftlichen Wesen.) Sie geht aber insofern über Hegel hinaus, als sie diese »Gleichheit« nicht auf einer Erkennbarkeit des Anderen beruhen lässt, sondern auf seiner Unerkennbarkeit, dem unausweichlichen – und gemeinsamen – Scheitern bei dem Versuch, Rechenschaft über sich selbst abzugeben. »Die Geschichten, die ich beim dritten Glas Wein von mir selbst erzähle, unterscheiden sich meist völlig von denen, die ich sonst so erzählen würde.«

Absolute Sicherheit gibt´s in dieser Anerkennungsszenerie keine: sich einem fremden Anderen gegenüber stellen, heißt nicht, dass es mich nicht verletzen kann, und das Ganze kann sowieso nur stattfinden, wenn ich mich darauf einlasse, mich nicht über es zu stellen und mit »He, sie da« anzurufen, oder die Adressierung gleich zur Anklage zu machen: »you´re on my property...« [2]

Setzt nun eine Ethik, die auf gegenseitigen Wunsch nach Narration baut - arg idealisiert - das stille Kämmerlein voraus, in das sich jede mit jeder, jeder mit jedem zurückziehen kann, um sich ausführlich gegenseitig wahrzunehmen und sich die unterschiedlichen Geschichten seiner selbst zu erzählen? – und liest sich das nicht ein wenig wie eine Anleitung, die ganze Welt im Wissen um ihre Undurchsichtigkeit und die Verletzungen, die sie mir zufügt, lieben zu lernen? Eine Komplexitätsreduktion? Oder doch ein Anerkennen von Komplexitäten, und die Möglichkeit, etwas anzuerkennen, das völlig verschieden von mir ist – ohne es zu kennen?

»wenn das Subjekt sich selbst undurchsichtig ist, kann es noch lange nicht tun, was es will, oder seine verbindlichen Beziehungen zu anderen ignorieren.«

Den Sinn der Verantwortung auf der Grundlage der Grenzen des Selbstverständnisses neu zu denken, heißt, sich selbst und andere als Subjekte zu akzeptieren, deren Entstehungsbedingungen sich nicht vollständig erklären lassen, und stellt klar, dass das Unbewusste mit seinem Überschuss und seiner Undurchsichtigkeit als psychisches Erfordernis des Überlebens und der Individuation weder übergangen noch durchdrungen werden kann: Es basiert auf bestehenden Verletzungen, und die können wir nicht alle wissen. So kann die Forderung nach Transparenz oder Identität niemandem gegenüber erhoben werden. Das Nicht-Kennen ist kein Anklagepunkt mehr gegen das Fremde, wichtiger ist die Einsicht in das Nicht-Kennen-Können.

Der zentrale Punkt ist aber der, den Anderen eben doch kennen zu wollen und sich auf einen nichtendenden Prozess einzulassen: Das ist in der zentralen Frage »Wer bist du?« angelegt, die dazu da ist, immer weiter gestellt zu werden, ohne je zu meinen, es gäbe eine abschließende Antwort darauf. Die ethische Haltung liegt nicht in der Beantwortung, sondern in der Praxis, die Frage zu stellen. Anders herum: »ich« verändere mich im Prozess des Fragens ständig selbst, so dass ich keine endgültige Antwort erwarten kann, denn auch mein »So-sein« hängt vom »Anders-sein« der Anderen ab, und die hängen in ihrem »Anders-sein« von meinem »So-sein« ab, und so ergibt

»jede Antwort wieder eine neue Frage, und jede neue Frage wieder eine neue Antwort«

Das Betonen eines primären physischen und psychischen Ausgesetztseins und einer schutzlosen Offenheit dem Anderen gegenüber, das Beharren auf der Notwendigkeit dieser schwierigen, unsteuerbaren Relationalität und schließlich genau das Ertragen(wollen) der Unerträglichkeit dieses Ausgesetzt-Seins, als Zeichen einer geteilten Verletzlichkeit, einer gemeinsamen Körperlichkeit, eines geteilten Risikos, ermöglicht die Entwicklung einer Ethik, die keinerlei Sicherheit bietet, außer der, dass ohne die Anderen kein Überleben möglich ist, egal, wie sehr sich “mich” auch hänseln und verletzen und adressieren und lieb haben mögen: denn genau das konstituiert mich, das macht »mich« zu »mir«.

»Möglicherweise erscheint die Frage der Ethik genau an den Grenzen unserer Systeme der Verständlichkeit, dort, wo wir uns fragen, was es heißen könnte, einen Dialog fortzuführen, für den wir keine gemeinsame Grundlage annehmen können und wo wir uns gleichsam an den Grenzen unseres Wissens befinden und dennoch Anerkennung zu geben und zu empfangen haben.« (ad_lec_2002, 9)


# epilog - verletzende prägungen - (once in a lifetime) #

»Als ich 8 war, traf ich Udo Lindenberg in einer Hotellobby, aber ich habe ihn nicht angesprochen. Als ich 17 war, hatte ich Karten für ein Nirvanakonzert, das ausfiel. Ich sah Kurt Cobain nicht mehr lebend wieder. Und nun, mit 26, hätte ich die Chance gehabt, eine persönliche Antwort auf die Frage zu bekommen, wie frau mit einer permanent fragenden Haltung allen gegenüber zu einer politischen Praxis kommen kann, oder, ob genau dies nicht eine hochpolitische Praxis ist ... aber vielleicht bleibt das auch selbst auszuprobieren ...?«

anna kant, b. settele, be-collectivante



credits - dank an alex_anne_auweg_bini_uta_daniel_dietmar_ _d–red_femis_mello_oli_wng fuer aufmunterung, lit, krit, material, sinn + verstand und zeit und an adriana_emmanuel_fritz_georg_judith_michel_theo für diverse vorüberlegungen

#1 ...den Versuch, Ethik aus der Sicht der Verletzten zu denken, macht Emmanuel Lévinas.

#2 ...und außerdem bist du in Schussweite!« - Michael Moore untersucht den nordamerikanisch-nationalen Umgang mit Waffen. Zentraler Gedanke ist, dass das Verlangen nach immer mehr Sicherheit tatsächlich immer mehr Angst generiert.


Literatur:

*.* ad_lec_2002 - Judith Butler, Adorno Vorträge FfM 2002: »Kritik der ethischen Gewalt«. Die Adorno Vorträge haben vom 11. bis 13. 11. 2002 in Frankfurt statt gefunden (Initiatorin Institut für Sozialforschung) und sollen jährlich mit Autoritäten wechselndender Fachgebiete über die Bühne gehen.

*.* kritik?_2002 - Judith Butler, Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend, in: Dt. Zeitschrift für Philosophie 2002, Heft 50

antigone_2001 - Judith Butler, Eine Welt, in der Antigone am Leben geblieben wäre, Interview diskus 3.01. www.copyriot.com/diskus

*.* eth_amb_1999 - Judith Butler, Ethical Ambivalences,

in: figurationen, Nullnummer, Heft 0/99. http://www.figurationen.unizh.ch/desktop.html

*.* fem_post_1993 - Judith Butler, Kontingente Grundlagen: Feminismus und die Frage der »Postmoderne«, in: Benhabib, Butler, Cornell, Fraser: Der Streit um Differenz, 1993

*.* hand_2002 - René Aguigah, Wir in der Hand der Anderen. Wie erklären wir, dass wir immer von Anderen beeinflusst werden, die wir nicht kennen? in: taz vom 18.11.2002

*.* bowling_2002 - Michael Moore, Bowling for Columbine, Film, USA 2002.