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Abgearbeitet

Die öffentliche Rede über die NS-Vergangenheit Deutschlands erweckt mittlerweile den Eindruck, als sei die »Vergangenheitsbewältigung« an ihrem Ziel angelangt, als könne billigerweise nicht mehr verlangt werden: die letzten Archive sind geöffnet, die letzten Opfer durch einen Gnadenakt entschädigt, wer noch ein Sprechverbot zu finden glaubt, gegen das verstoßen werden kann, darf sich glücklich schätzen. Die Erinnerung bekommt Orte, die uns überdauern werden und auch die langlebigsten Täter liegen bald unter der Erde. Ernst Noltes Klage von 1986 über die »Vergangenheit, die nicht vergehen will« scheint sich erübrigt zu haben, die »Normalisierung« hat stattgefunden, jedoch auf anderem als dem von ihm intendierten Weg.

Aus der »gelungenen Vergangenheitsbewältigung« in all ihren Facetten wird heute politisches Kapital geschlagen. Sie dient als Ausweis der Läuterung, als Legitimationsgrundlage für außenpolitisches Engagement, als Möglichkeit einer positiven Identifikation mit der deutschen Nation. Gleichzeitig bleiben Relativierung und Leugnung verschiedener Aspekte des NS Teil der öffentlichen Debatten. Die »deutschen Opfer« von Krieg und Vertreibung werden mit der kontrafaktischen Behauptung, ihr Leid sei Jahrzehnte lang verschwiegen worden, ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, Vertriebenenfunktionäre werden von SPD- und Grünen-PolitikerInnen hofiert, öffentliche antisemitische Äußerungen können nur noch mühsam skandalisiert werden. Versatzstücke nazistischer Ideologie deklarieren sich heute als »unverkrampfter Umgang« mit der NS-Vergangenheit; »man wird ja noch sagen dürfen, …« Jene, die solches als ihr Werk begreifen, als gelungene Aufarbeitung deutscher Geschichte, stehen stolz daneben.

Es wird im Folgenden versucht, zentrale Etappen auf dem Weg dieser »gelungenen Bewältigung« der NS-Vergangenheit nachzuzeichnen; wir konzentrieren uns dabei auf die 80er und 90er Jahre. Im Zentrum stehen öffentliche Debatten und die offizielle Repräsentation der Vergangenheitsbearbeitung. Das Verhältnis der öffentlich repräsentierten zur nicht-öffentlichen Meinung, zum Alltagsdiskurs, wird dabei nur angerissen. Der Text dient der Klärung einer Ernüchterung.


I.

Die Deutschen sind die Deutschen

und sie sind es nicht

Nach Gründung der BRD hieß es, die Deutschen des Jahres 49 seien nicht mehr die des Jahres 44. Die

nächsten 50 Jahre wurde viel Mühe darauf verwendet, eine Diskontinuität im Land der Deutschen zu beweisen. Tatsächlich aber waren zunächst einmal die Deutschen vor 45 dieselben wie nach 45, und später waren ihre Kinder und Enkel die Kinder und Enkel von Eltern und Großeltern, die nur eine Geschichte hatten und nicht etwa zwei. Dass die Deutschen immer noch die Deutschen heißen, verweist allerdings auf eine Kontinuität, die in der über die Kriegsniederlage hinaus währenden Existenz des Nationalstaats begründet ist und von der Rechtsnachfolgerschaft bekräftigt wird. Das ist keine allein formale Identität; Nationalstaaten sind Instanzen realer Vergesellschaftung.

Der Bruch der Deutschen mit Nazideutschland war zunächst rein pragmatisch, denn die Alliierten hatten Nazideutschland beseitigt. Mit der Zeit sollten aus den gezwungenen Deutschen die anderen Deutschen werden. Die hinlänglich bekannte Konstellation des kalten Krieges machte diese Transformation zu einem Unternehmen, dem in jedem denkbaren Fall das Gelingen attestiert worden wäre. Unterhalb der Einbindung in die Blockkonfrontation blieb Deutschland verdächtig. Die Revisionen und Zäsuren, die aus der Nazigefolgschaft Demokraten machen sollten und die Prozesse und Verfahren, die die Verbrecher bestrafen sollten, waren weder dem Ausmaß der Verbrechen noch dem Konsens, der sie trug, angemessen.

Die offizielle deutsche Geschichtsschreibung bezog sich konstitutiv auf diesen vermeintlichen »Bruch«, um die neue demokratische Tradition abzuheben von der dem historischen Urteil verfallenen Nazizeit. Gleichzeitig verwahrte man sich gegen allzu viele praktische Konsequenzen. Um Entschädigungshöhen wurde gefeilscht, um die Freilassung von Kriegsgefangenen, aber auch von Kriegsverbrechern wurde verbissen gekämpft.

Die Deutschen wussten um die an sie gerichteten Erwartungen, insbesondere darum, dass sie sich von sich selbst, als den ehemaligen Nazis, distanzieren sollten. Alles war anders geworden und alle hatten es erlebt. Insoweit gab es die Kontinuität der Nation, nämlich als gemeinsame Erfahrung. Aber die gemeinsame Erfahrung war keine, die dafür taugte, als

Nationalgeschichte ausgestellt und zelebriert zu

werden.

Die nächsten 40 Jahre BRD-Geschichte waren durchzogen von einer Spannung zwischen der faktischen genealogischen Kontinuität der Deutschen und der Einsicht in die Notwendigkeit eines Bruchs mit der Kontinuität der Nation.

Anfang der 80er Jahre vergrößerte sich durch zahlreiche Initiativen, die lokale Bedingungen und Aspekte der NS-Judenverfolgung aufarbeiteten, der politische Spielraum. Die Deutschen schienen auch jenseits offizieller Verlautbarungen Einsicht zu nehmen und damit zu zeigen. Kanzler Kohl demonstrierte alsbald eine neue »Unbefangenheit« gegenüber den Hypotheken der deutschen Geschichte, – eine Gegenläufigkeit, die bezeichnend ist. In einem Gespräch mit den Abgeordneten der Knesset anlässlich eines Israel-Besuchs betonte er den genealogischen Aspekt nationaler Kontinuität: »… es ist wie in der eigenen Familie: ob man mit all dem einverstanden ist, was die, die vor einem waren, getan haben oder nicht, man kann sich nicht lossagen … man trägt das Blut der Familie, die Erbanlagen in sich.« [1]

Das war der Auftakt für eine Reihe von Äußerungen, die nach der gesellschaftlich am ehesten vermittelbaren, politisch einträglichsten und international akzeptiertesten Konstellation von Kontinuität und Diskontinuität forschten. Es galt, eine Lesart deutscher Geschichte zu finden, die mit dem Diskontinuitätsparadigma versöhnt war, um eine nach innen konsensfähige und nach außen unverdächtige Darstellung des erneut starken Deutschlands zu etablieren. Die Weizsäcker-Rede 1985, der Historikerstreit 1986 und die Jenninger-Rede 1988 sind Meilensteine dieser Suche nach Klarheit.


Methoden und Bedingungen

Leugnung und Relativierung sind die naheliegenden Methoden, die Kontinuitätslinien offen zu halten. Sie entlasten unmittelbar gegen den Druck der Schuld, gegen Forderungen und Vorwürfe der Opfer, gegen das schlechte Gewissen. Sie helfen aus der Defensive heraus. Im Rahmen der frühen Debatten wurden solche Positionen häufig verknüpft mit Verurteilungen einzelner Aspekte des NS – die Zeit expliziter Auschwitz-Leugnung war vorbei und noch nicht wiedergekommen.

Aneignung und Durcharbeitung hingegen ist die Methode derer, die das abgespaltene Erbe »bewältigen« wollen, um so auf einer übergreifenden Ebene neue Kontinuität herzustellen. Durcharbeiten und Aneignen kann sich gemäß dieser Zielsetzung nicht radikal am Gegenstand orientieren, sondern muss vielmehr immer auch die Adressaten im Blick haben, d. h. es werden häufig Identifikationsangebote (»Verführte und Verstrickte«) zur Abfuhr innerfamiliärer Spannung und zur Wahrung des Anspruchs auf nationale Versöhnung mitgeliefert. Beliebt ist die Identifikation mit den Opfern und eine Betonung des Schreckens, der Unterschiede zwischen Opfern und Täter einebnet.

II.

1985 wurde der 40. Jahrestag begangen des …, ja, von was? Weizsäcker sagt: »Jahrestag der Befreiung«, das war bis dahin alles andere als selbstverständlich. Er sagt »Befreiung« aus der Perspektive einer Nachkriegszeit, in der gelernt wurde, dass die Dinge nicht so benannt werden sollten, wie sie damals mehrheitlich empfunden wurden, zugleich ist interessant, was er über das Davor sagt:

»Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. [...] Der Blick ging zurück in den dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft. Und dennoch wurde es von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war der Tag der Befreiung.« [2]

Getäuscht und im guten Glauben an die Führung betrogen, in Sorge und ohne Bleibe, hatte man am 8. Mai 1945 einen seltsamen Blick: zurück ins Dunkel-Abgründige und nach vorne ins Dunkel-Ungewisse. Was an diesem Tag, nach Weizsäcker, geleistet wurde, war enorm. Zwar noch deutlich von der demokratischen Zukunft entfernt (noch dunkel) aber schon genauso weit von nazistischer Vergangenheit entfremdet (schon dunkel) – sozusagen die halbe Miete. Von da an wurde es »von Tag zu Tag klarer« und heller.

Aber der 8. Mai wird von ihm auch »Tag der Erinerung« genannt: »Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird.« [3] Daraufhin führt er – immer mit der Formel »wir gedenken« eingeleitet – fast alle Opfergruppen des NS auf und schreibt dann fest: »Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger.«

Bemerkenswert ist, wie Weizsäcker die harte Kost des ausführlichen Schuldeingeständnisses einem Teil seiner Zuhörerschaft schmackhaft macht mit ausgesuchten Freundlichkeiten gegenüber den Vertriebenen und ihren Repräsentanten, die z. B. explizit und komplett von Revanchismus freigesprochen werden.

Im Rahmen der Feierlichkeiten zu diesem Jahrestag ehrt Kohl zusammen mit Reagan in Bitburg Soldatengräber, u. a. auch Gräber von Angehörigen der Waffen-SS. Schön zu sehen, wie die parallelen Bemühungen, Gedenken und Tradition, Bruch und Kontinuität austariert werden. Was immer der Bundespräsident über die Opfer der Deutschen sagt, es wird gut sichtbar relativiert von der Anknüpfung an real erinnerte Empfindungen und Haltungen. Bitburg signalisiert: die alten Kameraden werden nicht der Bewältigung preisgegeben! Weizsäcker signalisiert: von ganz hier oben sieht man, dass zu allererst die Anderen Opfer waren.


Historikerstreit

Im Historikerstreit entfalteten sich zwei für die nächsten Jahre maßgebliche Positionen, die wir als Linien verstehen wollen, um ein Moment der Fortschreibung deutlich zu machen. Es sollte klar sein, dass es sich nicht um ideologisch geschlossene Positionen handelt, gar um Fraktionen mit klarer Zugehörigkeit und geschichtspolitischer Strategie, wenn auch einzelnen Arbeitszusammenhängen eine strategische Idee unterstellt werden muss.

Am 6. Juni 1986 eröffnete Ernst Nolte in der FAZ das, was später der Historikerstreit genannt wurde, mit der Klage über die »Vergangenheit die nicht vergehen will«, über eine Vergangenheit, »die wie ein Richtschwert über der Gegenwart aufgehängt ist.« [4] Er plädierte für eine Normalisierung der Betrachtung dieses Teils der Geschichte und durchbrach den Konsens, den NS – wie auch immer – aus der deutschen

Geschichte seit dem 19. Jahrhundert zu erklären. Seine zentralen Bestrebungen waren die Relativierung der Shoah durch ihre Einordnung in die Geschichte des Stalinismus (»asiatische Tat« [5]) und die Popularisierung eines Schlussstrichs. Ihm kam es zu, diese Positionen öffentlich und außerhalb rechtsradikaler Zusammenhänge stark zu machen.

Im Anschluss an Nolte hat bspw. Michael Stürmer die Klage über das mangelnde Selbstbewusstsein der Deutschen angestimmt und die »Suche nach der verlorenen Geschichte« [6] angemahnt, was man als Forderung nach einer Reformulierung der Nationengeschichte unter Umgehung von »Auschwitz« verstehen kann. Nicht zufällig diskreditiert er die politische Position »Antifaschismus«, (was dann später Habermas jedoch auch machte).

Die Gegenposition im Historikerstreit betonte die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Massenvernichtunmg. Sie differenziert zwischen Vergleichen und Gleichsetzen. Der Begriff des Zivilisationsbruches wird in diesem Kontext geprägt. Die Schlussstrichforderung wird zurückgewiesen.

Die Differenz zwischen den Linien zeigt sich deutlich darin, wie der von beiden Seiten nun häufig angebrachte Begriff der Historisierung besetzt wird. Historisierung ist für die Seite mit dem Schutzpatron Nolte das Brechen von Tabus und Mythen einer in Bewältigungs-Ritualen befangenen Geschichtsschreibung. Entlang dieser Bestimmung bildet sich ein rechter Forschungs- und Publikationszusammenhang, dem eine ganze Reihe Historiker, Politologen und Journalisten zugeordnet werden können.

Für jene in der Debatte, deren Fixpunkt Jürgen Habermas war, bedeutet Historisierung die wissenschaftliche Durcharbeitung des Gegenstands, seriöse Aufklärung, Verbesserung des Forschungsstandes durch Mehrung der Einzelanalysen und Monographien, Anwendung der historischen Analysemethoden auf die Zeit des NS wie auf jede andere Epoche und damit Behandlung des NS als historisch abgeschlossener Zeitspanne. [7]

Es stehen sich also gegenüber, um die Positionen etwas klarer zu konturieren: Zurückweisung der Schuld mittels des Bestreitens historischer Sachverhalte, Relativierung der Schuld durch den Verweis auf Verbrechen anderer, Angriff auf die im Laufe der 60er, 70er und frühen 80er etablierten Formen bundesdeutscher Gedenkpolitik (die inzwischen anerkennt, dass deutsche Täter Schuld haben an der Ermordung der Juden) im Wege der Kritik an Floskeln und Ritualen, aber eigentlich, um die Anerkennung selbst zu treffen. Dabei macht man sich den Fakt zunutze, dass die Anerkennung der Schuld nicht Konsens ist, sobald es ins Detail geht oder konkret wird. Die Vertreter dieser Seite könnte man als Relativierer oder Leugner bezeichnen. Letztlich ist diese Linie charakterisiert durch das Bestreben, die Kontinuität zu retten, mittels einer Darstellung der Nationengeschichte, für die man sich – summa summarum – nicht schämen muss.

Auf der anderen Seite stehen die, die das Erbe antreten wollen, das der NS »uns« überantwortet hat. Habermas plädierte für einen »autonome(n) Umgang mit ambivalenten Überlieferungen« [8]. Parole: Kritische Aneignung der Geschichte. Das heißt, Betonung der Diskontinuität im Hinblick auf die Zäsur ‘45, die viel Schlechtes von Gutem trennt, statt Einheit der Nation(engeschichte).

Die Vertreter dieser Seite mag man / frau Aneigner oder Durcharbeiter nennen. Diese Position schleppt den Widerspruch mit, dass sie Identität (neu) konstituieren will, ohne Identifikation zulassen zu können, dass sie Selbstbewusstsein und Nationalstolz auf der Basis von Diskontinuitäten etablieren will und auf der Basis oft nur kognitiv verankerter Kritik am NS: Die innerfamiliaren Bindungen verhindern seit je her einen emotionalen Bruch mit der deutschen Geschichte als der von Vater / Mutter bzw. Oma / Opa veranstalteten.


Jenninger-Rede

Dieser Widerspruch ist in klassischer Manier anlässlich der Jenninger-Rede zum 50. Jahrestag des Novemberpogroms am 10. 11. 1988 aufgebrochen. Beiseite gelassen die Rahmenbedingungen, die ein skandalisierendes Verständnis der Rede begünstigten, sprach Jenninger genau in den blinden Fleck der auch von Weizäcker stark gemachten Lesart. Jenninger fragte in einer kurzen Passage seiner Rede nach dem Subjekt der Verbrechen, nach der Massenbasis im Sinn einer Begeisterung für das Hitlerregime, nach der Verantwortung aufgrund eines allgemeinen Wissens von den Verbrechen. Dabei hat Jenninger die Bewusstseinshaltung der Deutschen während des NS in erlebter Rede wiedergegeben. Er brach mit der geläufigen Gedenkrhetorik, indem er suggestiv sprach, die Täterperspektive paraphrasierte – aber nicht als ein Akt der Befreiung vom Tabu, sondern intendiert als Akt der Aufklärung.

Für Jenninger ging es darum, sich Rechenschaft abzulegen, »wie es dazu kam, wie es dazu kommen konnte.« Ein Wechsel von der von Aneignern favorisierten Opferperspektive in die Täterperspektive. Indem Jenninger die Verfasstheit »der Leute« ins Spiel bringt, die als Vorfahren unbedingt in die nationale Geschichte integriert werden müssen, treibt er weniger die Relativierer als vor allem die Aneigner zu Proteststürmen. Die Betonung des Bruchs funktioniert nur, wenn das, womit gebrochen werden muss, auf abgrenzbare Bereiche beschränkt bleibt: Nazipartei, SS, Funktionseliten – alle Anderen waren verführt (was nicht schön ist) und verstrickt (was tragisch ist, aber kein Grund den Stab über ihnen zu brechen, im Gegenteil: über Verstrickte richten nur Pharisäer.)

Was Jenninger bzw. der Skandal um seine Rede aufzeigte, war Umfang und Gehalt der Kontinuität, die gebrochen werden müsste, wollte man mit Diskontinuität tatsächlich ernst machen.


III.

Im Zuge des Gewinns der staatlichen Souveränität 1990 wurde die NS-Vergangenheit immer wieder massiv staatspolitisch thematisiert. Das Bestreben war, die inhaltliche Gewichtung, die historische Einordnung, also allgemein die Interpretation zu kontrollieren: verschärftes Deuten statt Verschweigen. Die neugewonnene Souveränität musste noch einmal auf dem Feld der Erinnerungen und Empfindlichkeiten gewonnen werden. Es galt einen Strich zu ziehen, der nicht Schlussstrich heißen konnte, der aber die Vergangenheit einhegt und so definiert, dass Deutschland, als eine Nation unter anderen, seine Macht auch außenpolitisch nutzen konnte.

Das Diskontinuitätsparadigma war dabei zentral, um deutlich zu machen, dass Deutschland geläutert war. Der Kontinuitätsaspekt war unverzichtbar, weil die nun endlich auch zu repräsentierende nationale Größe nicht auf Tradition und auch nicht auf historische Leistungen verzichten kann.

Die zwei Linien lassen sich auch weiter herausarbeiten, zumal ihre Protagonisten oft ernsthafte Gegner waren. Letztlich war das auch der Grund, wieso es für Linke geboten schien, sich in den jeweiligen Konstellationen politisch zu positionieren. Zunehmend aber lassen sich die zwei Linien, die sich auch in den 80ern schon an bestimmten Punkten berührten, wie z. B. im Begriff der Historisierung oder Normalisierung, nicht mehr voneinander scheiden. Die beiden Linien wurden – zu Fäden gesponnen – in den 90ern verflochten und stellen heute den Strick dar, an dem die Kritik aufgehängt wird.

Im Folgenden werden einige Ereignisse und Phänomene der 90er Jahre im Hinblick auf das Verhältnis zur Vergangenheit, das sie etablieren, dargestellt und charakterisiert werden.

Neue Wache

Die Neue Wache, eingeweiht 1993, ist gedacht als die zentrale Gedenkstätte des vereinigten Deutschland. »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« lautet die Widmung. Die aufgeblasene Käthe-Kollwitz-Plastik referiert im doppelten Sinn auf die Urmutter: im Sujet und in der Künstlerin. Die Gesamtkomposition nivelliert souverän jeden Unterschied zwischen Opfern und Tätern und funktioniert – gerade weil sie eine pazifistische und keine aggressive Form hat – gut als versöhnlerisch-gefühliger Unterstrom von Relativierung und Schlussstrichforderung.

Das Motto »... Krieg und Gewaltherrschaft« ist nichts Neues, es ziert seit den 50ern diverse Denkmäler. Die Neue Wache verweist so auf die Ähnlichkeiten im Gedenkdiskurs der 50er und der 90er und darauf, dass alte Formen nationaler Repräsentation wieder möglich sind – mit einem wichtigen Unterschied: Außen wurde eine Tafel angebracht mit der »Wir gedenken ...«-Passage der Weizsäcker-Rede; eine versöhnende Geste, die dem Schuldeingeständnis die Referenz erweisen soll.


Öffentlicher, bekennender und pogromistischer Rassismus.

Anfang der 90er gab es in rascher Folge Brandanschläge, rassistische Angriffe auf offener Straße bis hin zu Pogromen. Der offiziellen staatlichen Rezeption des »Problems« lag das Postulat zu Grunde: es gibt keine Kontinuität zum NS. Die massenhaften Bezugnahmen auf deutsche Tradition (z. B. Reichskriegsflaggen, Hakenkreuze) wurden ignoriert, Mord- und Totschlagspraktiken wurden als Problem der DDR-Sozialisation verhandelt, später als Probleme von Vereinigungs- oder Modernisierungsverlierern,von orientierungslosen Jugendlichen. Explizit neofaschistische Aktionen, wie die Schändung jüdischer Friedhöfe, die Sprengung von Galinskis Grab, verwiesen nie auf Kontinuitätslinien, sondern immer auf kleine Gruppen Ewiggestriger oder verblendete Einzelgänger. Wahlerfolge entsprechender Gruppierungen wurden zu Protestwählertum erklärt. Es wurde der kontrafaktische Leitsatz etabliert: es gibt in Deutschland keine nennenswerte politische Praxis, die in der Tradition des NS steht und erst recht keine Basis in der Bevölkerung dafür.


Aufarbeitung des »DDR-Unrechtsstaates«

Die Aufarbeitung des »Stasiunrechts«, die ganze Abwicklung der DDR, geschah mit Hilfe der wiederbelebten Totalitarismustheorie. Sie wurde aktualisiert und durch staatliche und justizielle Akte »wahr« gemacht, hat jedoch relativierende Positionen immer gestützt und ist in so fern ein alter Hut. Nur wurden jetzt gerade die Erfahrungen mit der »Aufarbeitung« der NS-Vergangenheit und die Lehren, die man aus der unzureichenden Ahndung der NS-Verbrechen gezogen hat, in Anspruch genommen, um die Abrechnung mit dem »DDR-Unrechtsstaat« zu begründen.

Im Zuge dieses Vorgangs kam es ständig zu Entdimensionierung, Nivellierung und Relativierung von NS-Verbrechen. Regelmäßig war in Statements von den »zwei deutschen Diktaturen« die Rede.


Offizielle Feiern zum 8. Mai 1995

Die Schwerpunktverschiebungen in Gedenkdiskursen zeigen sich auch an einem Vergleich zwischen den Feierlichkeiten am 8. Mai 1985 und 1995. Weizsäckers Rede 1985 wurde, wegen des bis dato in der Form nicht erfolgten offiziellen Schuldeingeständnisses mit Nennung fast aller Opfergruppen, als eine Art Befreiungsschlag begrüßt. Das Staatsoberhaupt machte sich zum Sprecher der Aufarbeitung und übernahm stellvertretend die Verantwortung. Durch Erinnerung an die Schuld sollte Erlösung möglich werden.

Zehn Jahre später galt die Bewältigung der Vergangenheit in den offiziellen Reden als vollbracht. Zum strittigsten Punkt (Verbrechen der Deutschen vs. Vertriebenenfrage) ließ sich der Bundestag vom polnischen Außenminister bestätigen, dass neben den Polen auch den deutschen Vertriebenen Unrecht getan wurde.

Bundespräsident Herzog erinnerte an Krieg und NS-Zeit als große europäische Katastrophe. Der 8. Mai wurde von ihm aus einer europäischen Perspektive als Tor in eine großartige Zukunft gefeiert. »Das Kriegsende war eine Rückkehr zu den besseren Traditionen Europas und (...) auch Deutschlands. Es war eine Rückkehr in die Zukunft.« [9] Es ging nicht mehr um Befreiung oder Niederlage, sondern um Neubeginn und Anknüpfung an »gute« Traditionsbestände. Der geladene Mitterrand nannte, sicherlich zur Freude der Gastgeber, den 8. Mai einen »Sieg Europas über sich selbst«. [10] Da Aufarbeitung und Versöhnung vollzogen schienen, konnte nun eine übergeordnete Perspektive eingenommen werden, die weder Identifikation mit den Opfern, noch Auseinandersetzung mit den Tätern braucht.


Wehrmachtsausstellung

Die Wehrmachtsausstellung war konfrontativ in ihrer Darstellung des Vernichtungskriegs. Das wurde verstanden: Die Zerstörung des Mythos von der sauberen Wehrmacht wurde massiv bekämpft mit Brandanschlägen, Demos, Verweigerung zugesagter Ausstellungsorte, dem Fernbleiben von Eröffnungen. Die Ausstellung legte sich natürlich mit den Leugnern an, die auf die Wehrmacht nichts kommen ließen, aber sie rührte auch am Grundwiderspruch der Aneigner, die (wie erwähnt) nicht jeglichen identifikatorischen Bezug auf den NS zerstören dürfen.

Der Preis für die tatsächliche Aufklärung über die deutsche (Wehrmachts-)Vergangenheit wurde an diesem Punkt, an dem eine Konfrontation mit beiden Linien ins Haus stand, entschieden zu hoch.

Die Wendung, die in erster Linie über die Begleitprogramme und Eröffnungsreden in Gang kam, war frappant. Aus der Thematisierung der Wehrmacht als Gemeinschaft der Täter wurde das Reden über empirische Einzelne, die als Opas und Beteiligte (als Soldatenopas) greifbar waren. Dabei wurden die Einzelnen gleichsam herausgesprengt aus dem Kontext des Verbrecherischen, wurden mit Hilfe des gesellschaftlich bereitstehenden Vokabulars, dass es ein Ende haben müsse mit reflexhaften Verurteilungen und ritualhaften Abgrenzungen, zu Diskussionspartnern. Die auf den Fotos zu sehenden Barbaren, wie sie lachend bei den Galgen standen, waren verschieden von den schwierigen und komplexen Persönlichkeiten, die man nun als Zeitzeugen auszureden lassen hatte und die zum Bezugspunkt intergenerationaler Versöhnung wurden. Das Diskontinuitätsparadigma wurde einem an sich nun wirklich Kontinuität erweisenden Sachverhalt, nämlich den Leben der beteiligten Täter, einfach übergestülpt. Der Gewinn für die Bereinigung der Nationalgeschichte, den diese Leistung abwarf, kann kaum überschätzt werden.


Entschädigung der Zwangsarbeiter

Aus der Dynamik, die durch die zahlreichen Thematisierungen der letzten 15 Jahre entfacht wurde, entstanden gelegentlich nicht intendierte Konfrontationen. Diese wurden mit harten Bandagen und recht großem medialen Echo geführt und, sobald sie beendet oder entschärft waren, als Verarbeitungsleistung gepriesen. Zu denken ist dabei etwa an die Forderung nach Entschädigung der Zwangsarbeiter, in Gang gesetzt durch die Drohung mit Sammelklagen gegen deutsche Großunternehmen. In der bundesdeutschen Diskussion dominierte die Idee der Interessensabwägung zwischen zwei Parteien auf Kosten der Einsicht in Ausmaß und Bedeutung der Zwangsarbeit. Systematisch wurde das Zwangsarbeiterwesen im NS verharmlost und in seiner Bedeutung, gerade auch für die Prosperität im Nachkriegsdeutschland, herunter gespielt. Nachdem eine so genannte Einigung erzielt war, gab es Almosen mit großer Geste. Die »Lösung des Problems« gereicht dem Vergangenheitsaufarbeiter Deutschland zur Ehre und bekommt internationalen Vorbildcharakter.


Walsers Paulskirchen-Rede

Walsers Preisrede stellt insofern eine Zäsur dar, als das erste Mal seit dem Einstieg in die Durcharbeitungspraxis, also seit Anfang der 80er, öffentlich und an herausragender Stelle die Schuldanerkenntnis verweigert wurde. In der Paulskirche, anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels, reklamierte Walser die Freiheit des Gewissens gegen die Macht der »Moralkeule«. Er hat genau registriert, dass trotz aller Verarbeitung und konsensualer Bewältigung ein erhebliches Potenzial an Widerstreben und Verdruss aufgelaufen ist. In der klassischen Form einer Selbstzuschreibung der Opferolle verhalf er diesen psychischen Energien bei seinem Publikum zum Durchbruch. Der (fast) ungeteilte Beifall zeigte, dass die Zeit reif war, auch einmal hochoffiziell gegen den guten, den defensiven Ton zu verstoßen. Ignaz Bubis, von der Republik als Mahner und Wächter der Menschenrechte ausgeguckt, blieb mit seiner Bestürzung allein.

IV.

Versöhnung

Dann ist Deutschland in den Krieg gezogen. Ungeniert wurde Auschwitz als Argument für staatspolitische Zwecke in den Dienst genommen. Lehren ziehen wurde zu einer der beliebtesten Übungen.

Der Kosovokrieg wird mit der deutschen Vergangenheit an der Seite geführt. Sie gibt ein Argument ab für einen völkerrechtswidrigen Out-of-area-Einsatz der Bundeswehr in einer Region, in der schon die Wehrmacht gewütet hatte. Der Staat Deutschland beruft sich in der Person seines Außenministers auf Auschwitz wie auf etwas Deutschland äußeres.

Die deutsche Geschichte ist von nun an ein Reservoir von Rechtfertigungen und Begründungen von Interventionsansprüchen, sie steht als bewältigte zur Verfügung. In dieser Perspektive kommt »Aufklärung« den Leugnern und Relativierern zu Gute, nun müssen, nach erfolgter deutscher Sühne, auch die »Verbrechen der Vertreibung« gesühnt und entschädigt werden. Die Vertriebenenverbände, die alte Bastion der Leugner, wird in die demokratische Gemeinschaft integriert. Ihrem Anspruch auf Institutionalisierung und Repräsentation, auf ein Zentrum, wird entsprochen. All das auf der Basis bewältigter Verbrechen, nicht auf der ihrer Leugnung! Das Feuilleton feiert die Überwindung alten Lagerdenkens, wenn »endlich ohne Tabus« über dies und das im NS geredet werden kann.

Wer gegen die Fortschreibung der Kontinuitäten den Bruch stark machte, als konstitutives Element für Fortschritt, Zivilgesellschaft und Demokratie, sieht sich am Ziel. Und wer die vom Schuldeingeständnis implizit verstoßene Generation (z. B. Landser) oder Tradition (z. B. Firmentradition) nicht preisgeben wollte, freut sich, dass heute alle möglichen Sprechpositionen sanktionslos eingenommen werden können, dass außer Hitler und einer Handvoll führender Nazis nichts und niemand komplett diskreditiert ist. Es stehen sich keine geschichtspolitischen Kontrahenten gegenüber, es gibt heute keine Konfliktlinie mehr, an der grundsätzlich antagonistische Deutungen gegeneinander gestellt würden.

Es wurde durchgearbeitet und es wurden Schlussstriche gezogen, es wurde im Prozess der Entschädigung relativiert und deutsche Opfer sind mit dem Hinweis auf jahrzehntelanges Schweigen im Gespräch wie nie.

Beide Linien, Durcharbeiter und Leugner, reflektierten letztlich auf die Nation, auf ihre Zukunft und auf die mögliche Form, in der das Gebilde Deutschland verfasst sein könnte, mental, politisch und kulturell. Beide Positionen reflektierten auf die Verbrechen Deutschlands nicht als ihren eigentlichen Gegenstand, sondern als Element, das eine Herausforderung für ihren eigentlichen Gegenstand darstellt.

Wer aus anderen, denn aus nationalen Gründen die Verbrechen zur Sprache bringen wollte, hat heute nicht nur keinen Bündnispartner, er hat heute keinen diskursiven Anknüpfungspunkt mehr.

Das galt es zu belegen. Ein bisschen Thematisierung hier, etwas Durcharbeiten da, ist recht – als Vervollkommnung des Gelungenen. Das Projekt der Aufklärung des NS war ein Teilprojekt der Vergangenheitsbewältigung zum Wohle der Nation. Nach dem Verlust dieser Einbettung wegen Erfüllung des übergeordneten Zwecks muss die Ausrichtung des Projekts der Aufklärung des NS völlig neu überdacht werden.

cehka



#1 Zit. nach Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München 1999, S. 203

#2 Richard von Weizäckers Rede vor dem Deutschen Bundestag 1985. http://www.bundestag.de/info/parlhist/dok26.html

#3 Ebd.

#4 Ernst Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will. In: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München 1987, S. 39

#5 Ebd. S. 45

#6 Michael Stürmer: Geschichte in geschichtslosem Land. In: Die Dokumentation ..., S. 38

#7 An diese Bestimmung schloss die Kritik von Saul Friedländer an, die in die Broszat / Friedländer-Debatte mündete. Nicht nebensächlich scheint zu sein, dass eine nicht-rechte Kritik an diesem sich als fortschrittlich begreifenden Historisierungsbegriff von außen kommt.

#8 Jürgen Habermas, Ein Art Schadensabwicklung, in: Die Dokumentation ..., S. 72

#9 Zit. n. Dubiel, S. 271

#10 Zit. n. ebd., S. 272