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editorial

Vierundzwanzig Absagen. Vierundzwanzig angefragte Autorinnen, die in ihren Terminkalendern suchten, aber »keine Zeit« fanden, – für diese Ausgabe »leider« keinen Text schreiben konnten. Die ungewöhnliche Höhe dieser Zahl mag Hinweis darauf sein, was für ein starkes Interesse an einer Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Linken gegenwärtig besteht, und wie hoch infolge dessen der Bedarf an kompetenten »Expertinnen« ist. Die Schubladen der unveröffentlichten Texte, aus denen sich schnell etwas hervorzaubern lassen hätte, scheinen geplündert. Aber die Schwierigkeit, ausreichend viele Autorinnen zu finden, die kritisch zu Antisemitismus arbeiten, liegt nicht nur darin begründet, dass es der Ressourcen wenig und der Anlässe viele gibt, sondern auch darin, dass das Thema ein empfindliches zu sein scheint. Die Auseinandersetzung um Antisemitismus wird nicht nur quantitativ verstärkt geführt, sondern auch ihrer Qualität nach verstärkt, heftig. Davon Auskunft geben die häufigen Anfragen potentieller Autorinnen nach einem Heftkonzept. Das gesteigerte Bedürfnis, sich des Kontextes, in dem der eigene Text erscheinen wird, zu vergewissern und sich Klarheit über die Positionen der Redaktion und der anderen Autorinnen zu verschaffen, ist gemessen an vorherigen Heftproduktionen neu. Es ist Ausdruck einer mehrfach polarisierten Debatte. Je straffer die Scheidelinien gezogen werden, die das politische Feld aufteilen, umso schwieriger wird es, nicht über eine drüber zu stolpern und sich plötzlich im falschen Kästchen wiederzufinden. Die Gefahr, dass die eigenen Worte durch das Gesamtkonzept des Heftes umgewertet werden könnten, einen anderen Klang bekommen könnten, schien deshalb als besonders bedrohlich erlebt zu werden. Vielleicht wird die Heftigkeit der Auseinandersetzung vor dem Hintergrund erklärbar, dass es nicht nur um die Frage geht, wie und mit welchen Mitteln der gemeinsame Gegner bekämpft werden soll. Insofern Antisemitismen für linke Zusammenhänge kein externes Phänomen darstellen, kann in diesen Zusammenhängen auch keine Einigkeit darüber herrschen, wer überhaupt diese Gegnerinnen sind und wodurch sie sich zu erkennen geben …

In Hinblick auf die beständige Produktion von Anlässen ist auf die deutsche Öffentlichkeit ebenso sehr Verlass wie auf die anonymen Staatsbürger, Stammtischlerinnen wie Kaffeekränzler, deren ehrliche Auskünfte den Statistikerinnen jährlich höhere Rechtsbalken bescheren. Der Aussage, dass »der Einfluss der Juden auch heute noch zu groß« sei, stimmen 28 % der Deutschen zu, weitere 32 % können sich nicht so richtig entscheiden. Letztere halten »den Einfluss der Juden« wahrscheinlich nur für ein bisschen zu groß oder »wissen«, dass ja nicht alle so sind. Mensch muss es sich auf der Zunge zerbröckeln lassen: Der Einfluss der Juden ist nicht nur zu groß, er ist es auch immer noch. War er also mal größer? Und wann? Wodurch hat dieser zu große Einfluss abgenommen oder hätte (eigentlich)

abnehmen müssen? Es kann keinen Zweifel darüber geben, wie in Deutschland die Antwort auf diese Fragen aussieht: Selbst die Vernichtung von 6 Millionen Jüdinnen hat deren Einfluss nicht auf ein angemessenes Maß zurechtgestutzt, auch 60 Jahre nach Auschwitz ist ihr Einfluss noch zu groß. Die Anzahl derjenigen, die dieser Äußerung zustimmen, hat sich innerhalb von 4 Jahren verdoppelt.

Auf der Ebene des öffentlichen Diskurses könnten die gezielten Versprecher und Ausrutscher der kochs, walsers, möllemanns dazu beitragen, die Kluft zur

familiären Privatsphäre zu schließen, wo man eh schon eher mal »seine Meinung sagt«. Während die anonymen Befragten keine Konsequenzen für ihre Ehrlichkeit fürchten brauchen, rufen die öffentlichen anti-

semitischen Ausfälle einiges Geschrei (Proteste, Entschuldigungen, Verteidigungen, …) hervor, herrscht doch in den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus eigentlich der Konsens, dass »alle« gegen Antisemitismus sind. Auf diesen Konsens kann sich aber auch die antisemitische Äußerung beziehen. Zum einen, indem sie sich affirmativ auf ihn beruft, um Kritik zu einem ungerechtfertigtem Vorwurf umzuwerten (»wie kann mir so was angehängt werden, wenn wir doch alle

dagegen sind«) – den anti-antisemitischen Konsens verlässt dann nicht, wer eine antisemitische Äußerung tätigt, sondern, wer sie als antisemitische benennt. Zum anderen wird der Konsens selbst als ein von fremden Mächten (den Alliierten, dem Ausland) erzwungener behauptet – leicht für nationalistisch agierende, sich beim Bürger positiv als Tabubrecherin zu stilisieren. Die beklommene Ablehnung judenfeindlicher Aussagen in der Öffentlichkeit weicht dem Unbehagen über diese Beklemmung: »... endlich wieder reden dürfen ...« Die Rede vom Tabu hilft dabei, sich als Opfer (»unterstellter Vorwürfe«) zu inszenieren. Es spreche ja nur Volkes Stimme aus einem, das Sprachrohr trage keine Schuld.

Meist wird das Wort »Juden« gar nicht ausgesprochen, wenn von ihnen die Rede ist. Wie aber »weiß« die Antisemitin, aus welchen tradierten stereotypen Bildern sie die »richtigen« Schlüsse zieht und gegen wen die zu richten sind, wie kommt sie von Finanzkapital, der Nase und der Medienmacht zu denen, die hinter allem die Fäden ziehen? In der postfaschistischen Gesellschaft kann auf allzu offene Äußerungen verzichtet werden, solange die Codes klar sind, die zwischen geschützter Privatsphäre und aufgeklärter Öffentlichkeit vermitteln. Den latenten Antisemitismus zu decodieren aber kann wohl kaum in der Schule, eher an den Stamm- und Abendbrottischen gelernt werden. Letzten Endes sind es die intergenerationellen Erzählungen der ›oral history‹, die die Tradierung des Ressentiments sicherstellen. Zeitzeugenberichte samt ihrer Auslassungen werden nun wohlmeinend rezipiert, und so reproduziert sich ein spezifisches kollektives Gedächtnis.

Unter diesen Bedingungen steht die Notwendigkeit, sich mit Antisemitismus zu beschäftigen, kaum in Frage, eine Berechtigung hat es aber auch, sich mit dem Sinn eines solchen Unterfangens zu beschäftigen, die erhofften Effekte der Kritik auszuloten. Die spezifische Struktur der antisemitischen Ideologie bringt es nämlich mit sich, dass ihr mit Aufklärung und Ideologiekritik kaum beizukommen ist ... Wie an den zwei folgenden Dialogen deutlich wird, neigen manche Vertreter antisemitischer Überzeugungen dazu, sich durch keinen Widerspruch beirren zu lassen.

I.

*> Israel – das sind doch die wahren Terroristen.

#> Das stimmt doch so überhaupt nicht …

*> Bitte? Liest du keine Zeitung? Da kannst du es doch täglich lesen, wie brutal die vorgehen. Ein Wunder, warum der Sharon noch nicht vorm Kriegsverbrechergericht steht. Kannst ja mal überlegen, warum. Aber mich fragt ja keiner.

#> Warum?

*> Na, weil die eine mächtige Lobby haben und die weiß Kritik schon zu verhindern. Die ganzen Medien sind doch in deren Händen – auch gerade in Deutschland – die wissen schon, wie sie nicht genehme Meinungen zensieren und …

#> Ähm, tschuldigung! Du hast doch eben noch selbst gesagt, dass du deine ganzen sogenannten Informationen aus der Zeitung hast. Warum schreiben die das denn rein, wenn die Zeitungen doch angeblich ihnen gehören und sie alles rauszensieren können.

*> Ja, das machen die natürlich absichtlich, damit keiner was merkt. Blöd sind die ja nicht …

II.

~>... und hinter den Illuminaten stecken übrigens die Juden.

<> Bist du bekloppt? Das ist antisemitisch!

~> Das ist nicht antisemitisch, sondern die Wahrheit. Das kannst du in den Protokollen der Weisen von Zion nachlesen. Da stehen die genauen Pläne drin, wie die Juden die Welt beherrschen wollen.

<> Die Protokolle sind aber bewiesenermaßen antisemitische Erfindungen, Fälschungen. Oder kannst du etwa einen Beleg für ihre Echtheit bringen?

~> Nee, beweisen lässt sich das natürlich nicht. Aber angenommen, du hättest recht, wie erklärst du dir dann, dass die israelische Regierung jedem hohen Staatsbesuch ein Exemplar der Protokolle schenkt?

Den Antisemitismus seiner Unwahrheit zu überführen, scheint ein ebenso einfaches Unterfangen zu sein, wie den Antisemiten aufzuklären ein nutzloses. Der strategische Einsatz des vorliegenden Heftes besteht eher darin, die diskursive Logik, Struktur und Funktionsweise von Antisemitismen zu beschreiben, den Blick für antisemitische Redeweisen, Karikaturen und Stereotype zu schärfen. Der Kampf um die Definitionshoheit darüber, was und wer als antisemitisch zu bezeichnen ist, versucht sich jener Diskursmacht zu bedienen, die genau dadurch entsteht, dass es niemand sein will. Und insofern Antisemitismus heute nichts mehr ist, wozu sich die Leute stolz oder auch nur so selbstverständlich wie zu einer Partei- oder Vereinsmitgliedschaft bekennen würden, lässt er sich teils durch den bloßen Akt der Benennung bekämpfen. Das macht es einfacher als bei den Nazis. Die nämlich kann mensch nicht mal anständig beleidigen, weil sie schließlich selbst der Inbegriff des schlimmsten Schimpfwortes (»Nazi! Nazi!«) sind.

redaktion.

Wir laden ein zu Diskussion und Heftkritik am Mittwoch, den 12. März 03 um 20 Uhr im diskus-Raum (Studierendenhaus, Mertonstraße, Eingang KOZ, Raum 106).