Fährten finden - Fährten fälschen
Die Stadt als Tatort


Dieser Text schlägt eine besondere Form der Stadterkundung vor, ein Experiment, das überall und zu jeder Zeit im urbanen Raum durchgeführt werden kann. Das Experiment beginnt, sobald die Beteiligten (idealerweise 1 bis 5 Personen) sich entscheiden, die Orte der Stadt (bekannte und unbekannte, außergewöhnliche und alltägliche) als Tatorte zu betrachten, an denen es nach den Spuren vergangener, abwesender Ereignisse und Handlungen zu suchen gilt. Diese Spurensuche lässt sichtbar werden, was in der Stadt als strategisches Projekt, als »Etablierung eines Ortes gegen den Gebrauch der Zeit« (Michel de Certeau) unsichtbar bleiben soll. Das Experiment versucht, die Kratzer in der Oberfläche einer sauberen und glatten Stadtoberfläche zu entdecken, die versteckten Fehler in der Fiktion der Stadt als dressiertem und zeitlosem Raum zu finden, die Aufmerksamkeit für das Wuchern und Werden der Stadt zu schärfen. Das Interesse gilt dem Gebrauch, den Bewohner und Passantinnen von der Stadt machen, der Manipulation und Produktion von Stadt, den alltäglichen Äußerungen, die den abstrakten Raum der Stadt in einen belebten Zeit-Raum verwandeln – im Umgang mit den Orten, in der Aneignung des Stadtraums. Dahinter steckt ein Gedanke Michel de Certeaus: Wie Sprache nur in der Vielfalt der konkreten Äußerungen existiert, realisiert sich Stadt erst durch den Gebrauch der Orte. Das Gehen als eine den urbanen Raum (und dessen Wahrnehmung) konstituierende Praxis, ist – so de Certeau – ein »Raum der Äußerung«, es »bejaht, verdächtigt, riskiert, überschreitet, respektiert etc. die Wege, die es ›ausspricht‹«.

All diese Äußerungen und Praktiken verschwinden in der Zeit (Ereignisse verschwinden und Schritte verhallen), doch sie hinterlassen Spuren, die im »Hier und Jetzt« der Stadt auf ihre Abwesenheit aufmerksam machen und im Rahmen des hier angeregten Experiments zum Objekt der Schaulust werden. Allein diese verschwundenen Ereignisse, Bewegungen, Handlungen erneut gegenwärtig zu machen, scheint lohnend in einer Stadt wie Frankfurt, die überall »Müll macht schlechte Laune!« plakatiert und stolz auf die Postkartenansichten glänzender Fassaden ist. Die Wert legt auf ein gründlich gereinigtes und von allen Flyern und sonstigen Gebrauchsspuren gereinigtes IG Farben-Haus oder U-Bahne Sitze mit einem Bezug versieht, der jeden Edding-Strich in einem Farbklecksmeer versinken lassen soll. Doch dieses Experiment möchte mehr sein als eine spielerisch-destruktive Geste, die den Blick auf die offiziellen Sehenswürdigkeiten verweigert und sich für all das interessiert, was das saubere Stadtbild stört. Die entdeckten Spuren werfen die Frage auf, was war, vielmehr, was gewesen sein könnte und damit auch die Frage nach den Potenzialen in der Gegenwart der Stadt: Das Experiment der Spurensuche fordert die Beteiligten auf, die Möglichkeiten zu prüfen, die die vorhandenen Städte anbieten, und hofft in der Gegenwart der Stadt eine »andere Stadt für ein anderes Leben« (Situationistische Internationale) aufzuspüren.

Um das Experiment erfolgreich durchführen zu können, sollten sich die Beteiligten die Techniken der Spurensuche, der Tatortuntersuchung aneignen. Lernen lässt sich bei Sherlock Holmes oder der Forensik:

Der Tatort ist funktionaler Ort eines tatsächlichen oder angeblichen Tatgeschehens und damit Träger wesentlicher Informationen über die Art und den Verlauf eines Tatgeschehens. Am Tatort entsteht ein einmaliges Spurenbild, das es zu erkennen gilt. Dies erfordert eine gründliche und vollständige Erhebung des Tatortbefundes, bei der auch das anfangs Unscheinbare und Unwichtige erhoben werden muss. Das Fehlen von Spuren an den erwarteten Stellen ist kriminalistisch häufig ähnlich aufschlussreich und handlungsorientierend wie das Auffinden von Spuren und deshalb zu dokumentieren.

(aus einem leicht bearbeiteten Informationsblatt der Polizei)

Auf Spurensuche richtet sich der Blick auf die unscheinbaren Details: Alles könnte eine Bedeutung haben, alles könnte unwichtig sein. Der Tatort ist voll von Bedeutung und gleichzeitig vollkommen leer. Die Spur ist immer fragmentarisch, die Rekonstruktion eines Ereignisses über seine Spuren immer prekär. Das Lesen der Spuren, das Enthüllen und Konstruieren von Bedeutungen fordert – so Mike Pearson – gleichzeitig einen empirisch-beobachtenden, analytischen und imaginativen Zugang. Der Tatort verlangt nach einer Poetik der Abwesenheit, nach einer Produktion der Vergangenheit innerhalb des Kontextes des Tatorts, in den sich die Ereignisse über ihre Spuren einschreiben.

Die urbane Spurensuche versucht nicht (und hier verlässt sie Sherlock Holmes und die Forensik), das abwesende Ereignis an eine Beweiskette seiner Wahrheit zu legen und den Täter zu identifizieren. Zunächst einmal geht es um einen anderen Blick, der die Stadt als einen Imaginationsraum betrachtet, geht es um die Produktion kleiner Erzählungen von abwesenden Ereignissen, Handlungen, Bewegungen.

Die Kratzer, die Fahrradlenker an einer Hauswand hinterlassen, das »we were here« auf einer Parkbank, ein Trampelpfad als Abkürzung zwischen zwei sorgfältig angelegten Wegen könnten für die Spurensuchenden Anlass anderer Geschichten der Stadt sein, die von der Produktion der Stadt durch ihre Bewohner handeln, von der Verwandlung der Stadt in ihrem Gebrauch, von den alltäglichen Listen und Praktiken, in denen die Möglichkeiten genutzt werden, die die Orte bieten und die Unmöglichkeiten ertragen werden, mit denen sie die Passantinnen konfrontieren. In der Betrachtung dieser Spuren zerfällt die Stadt in eine Unmenge von Details, in Fragmente und Überreste vergangener Ereignisse, die so unsichtbar wie unüberschaubar den urbanen Raum konstituieren; wird die von Stadtplänen, Panoramablicken und offiziellen images verbreitete Fiktion der Stadt als übersichtlich geordneter, leicht »lesbarer« und sauberer Raum zerstört. Die Spuren verführen dazu, die »Dressur des Raums« (Situationistische Internationale) durch Stadtplanung und Architektur als die fast schon negativen Bedingungen aufzufassen, die Manipulation und Gebrauch, die die vielfältigen Praktiken der Städtebewohner erst ermöglichen. Auch diese poesis der Spurensuche macht Stadt, denn die Stadt, das sind auch die Geschichten, die über sie und in ihr produziert werden, auch die Blicke, die sie wahrnehmen.

Andere Spuren, vielleicht ein abgekratzter Aufkleber, ein offensichtlich gut gezielter Farbfleck an einer Fassade, die Kratzer in einem Fenster der U-Bahn könnten den Spurensuchenden von einem »Aufstand der Zeichen« (Jean Baudrillard) erzählen. Als leere Signifikanten, die am Ort des Anderen auftauchen, lenken sie die Aufmerksamkeit auf die Prozesse der Bedeutungsproduktion selbst, irritieren sie die Ordnung der urbanen Zeichenwelt. Sie könnten als Kriegslisten wahrgenommen werden, die die »diskursive Polizei« (Foucault) nicht zu fassen bekommt, weil ihnen kein eigener Ort, kein Autor, keine Absicht zugewiesen werden kann; die kleine, die alltägliche Wahrnehmung außer Kraft setzende Fehler in das geordnete Stadtbild schmuggeln.

Das hier vorgeschlagene Experiment basiert also auf zwei Techniken und Operationsweisen: Das Entdecken von Spuren durch einen Blick, dem die Details, die Fehler, sogar der Dreck als Sehenswürdigkeiten erscheinen und das Lesen dieser Spuren, verstanden als die Produktion von Erzählungen über das, was war, oder eher: gewesen sein könnte. Von diesen Techniken ausgehend lässt es sich leicht ausweiten und variieren. Vorstellbar wäre etwa, die Spuren zu kartographieren, um die Städtebewohnerinnen auf besonders interessante Spuren (wie in Hinterhöfen versteckte poetische Graffiti) aufmerksam zu machen und herauszufinden, welche Gegenden der Stadt sich dem Gebrauch (der Manipulation) durch die Passanten anbieten, welche sich den Spuren verweigern oder sorgfältig von ihnen befreit werden, weil sie möglicherweise besonders wichtig für das image der Stadt sind. Ausgehend von den Spuren gegenwärtiger und vergangener Nazi-Aktivitäten könnte deren (un)heimliche Präsenz sichtbar gemacht werden – in weniger optimistischen Erzählungen als den bereits skizzierten. Das Interesse könnte auch den Maßnahmen gelten, die Stadtplanung und Verwaltung gegen die Spuren ergreifen, um jeder Störung der spektakulären Vorstellungen der Stadt vorzubeugen. Das Experiment der Spurensuche könnte schließlich zur Erprobung von Techniken des Spurenlegens und –verwischens führen. Spuren zu verwischen könnte heißen, nur noch Bargeld zu benutzen, sich zu verkleiden und so ein Spiel mit images zu spielen. (Falsche) Spuren zu legen könnte heißen, Verkehrsschilder zu vertauschen, Blumen in der Fußgängerzone zu pflanzen, Gerüchte zu streuen, Käsespießfähnchen in Hundehaufen zu stecken, die Stadt mit geheimnisvollen Nachrichten oder Kreidepfeilen zu übersähen, irgendetwas zu tun, das den Blick der Passanten irritiert und einen fragenden Gesichtsausdruck angesichts einer nicht länger selbstverständlichen Stadt produziert. So könnte das Experiment der Spurensuche dazu beitragen, die gegenwärtige Stadt als die Realisierung bestimmter Möglichkeiten zu erkennen, in der unzählige andere enthalten sind.

Lars Schmidt