Bewährte Gewerkschaftspolitik oder Kampf um soziale Transformation?

Was ist Globalisierung und wie kann eine Kritik daran aussehen? Diese Frage ist nicht einheitlich zu beantworten, zu unterschiedlich sind soziale Hintergründe und inhaltliche Prämissen der TrägerInnen der Kritik. Während sich viele angeekelt von »Nationalstaatentümelei« abwenden, ordnen immer mehr Gruppen und Bewegungen, jenseits etablierter Organisationen und Institutionen, ihre spezifischen Anliegen einer »no-global«-Bewegung zu. Gerade im Sinne letzterer bedeutet dies, eine Auseinandersetzung um die Inhalte von »Globalisierungskritik« voranzutreiben. Darin eingeschlossen ist eine solidarische Kritik der Bewegungen und ihrer Positionen selbst.

Im Folgenden geht es um die Globalisierungskritik von gewerkschaftlicher Seite und um die »Gewerkschaftslinke«. Also um diejenigen, die prinzipielle Kritik an »wettbewerbskorporatistischen« Mainstream-Positionen der großen Gewerkschaften formulieren. In dieser Gewerkschaftslinken – sowohl in Frankreich wie in Deutschland – findet sich ein Verständnis von Globalisierung, das staatliches Handeln ins Zentrum seiner Betrachtung rückt und kapitalistische Verwertungszusammenhänge nur ungenügend berücksichtigt. Allerdings geschieht dies in Frankreich und Deutschland in unterschiedlicher Weise. Warum sich trotz dieser aus kapitalismuskritischer Sicht zu kritisierenden Ausgangsposition in Frankreich eine bewegungsnahe, weitaus radikalere und »anschlussfähigere« Gewerkschaftslinke entwickeln konnte als in der Bundesrepublik, lässt sich nicht zuletzt mit dem unterschiedlichen Verständnis von Globalisierung erklären.


Globalisierungskritik für einen staatlichen Politikwechsel?

Längst sind in Deutschland und Frankreich Stimmen laut geworden, die auf die Folgen gewerkschaftlicher Standortpolitik aufmerksam machen. Gegen den ständigen und scheinbar unaufhaltsamen Abbau sozialer Standards (innerhalb wie außerhalb der Betriebe) und seine Mitgestaltung und Akzeptanz durch die Mehrheitsgewerkschaften wird auf der Notwendigkeit insistiert, Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit gegen den »Neoliberalismus« zu verteidigen – was allerdings nur gelänge, wenn sich Gewerkschaften als »Gegenmacht« begriffen. Das Credo dieser kritischen Position lautet: Globalisierung ist kein natürliches Phänomen, kein »Sachzwang«, dem man sich als Gewerkschaft beugen muss. Es gäbe letztlich, so spitzen es einige AutorInnen selbst zu, keine realwirtschaftliche Globalisierung. Diese sei vielmehr ein »Mythos« (Bourdieu) und strategischer Kampfbegriff um die arbeitende Bevölkerung zu disziplinieren, gewinnmindernde Sozialstandards und die Ausbeutung von abhängig Beschäftigten begrenzende Schutzvorschriften zu eliminieren.

Globalisierung wird also demnach politisch hergestellt, und zwar von denjenigen, die nach vorherrschender Überzeugung eigentlich machtlos sind: den Nationalstaaten. Resultat sei die Rückkehr zu einem sozialstaatlich unregulierten und ungezähmten Kapitalismus.

Der Ausweg aus dieser Entwicklung wiederum ist in dieser Deutung selbst schon angelegt: Wenn »Globalisierung« nichts ist als eine von den Nationalstaaten betriebene Ideologie zur Durchsetzung eines neoliberalen politischen Projekts im Interesse aggressiver Kapitalfraktionen – dann kann umgekehrt der Staat auch in die Verantwortung genommen und zur Änderung seiner Politik gezwungen werden. Es gälte, eine Transformation des Mehrprodukts in gesellschaftlichen Fortschritt, in Arbeitszeitverkürzung, Bildung, ökologischen Umbau (wieder) zu erlangen.

Mit anderen Worten, die gesellschaftlichen Akteure verlieren in dieser Konzeption nicht – wie nach der »Sachzwanglogik« behauptet – ihre Handlungsfähigkeit, da zuvor wirtschaftliche »Globalisierung« als materielles Phänomen weitgehend zurückgewiesen wurde. Zentrales Anliegen dieser Variante von Globalisierungskritik ist folglich, einen »Politikwechsel« herbeizuführen, wobei den Gewerkschaften ein umfassendes Aufgabenfeld der Mobilisierung und Aufklärung zukommt: Gewerkschaften sollen den »Sozial-darwinismus delegitimieren«, den »Mythos der Globalisierung« demaskieren und für Eckpfeiler eines »europäischen Sozialmodells« streiten. Um wirksamen »Druck von unten« zu entwickeln und eine »Gegenöffentlichkeit« herzustellen, müssten Gewerkschaften zudem mit sozialen Bewegungen zusammenarbeiten und sich international koordinieren. Kurz: Gewerkschaften sind nach dieser Konzeption die zentralen Akteure, um den Staat, national wie europäisch, zur Änderung seiner Politik zu zwingen. Diesem Ansatz von Globalisierungskritik ist schon oft vorgeworfen worden, dass er nicht den kapitalistischen Verwertungszusammenhängen auf den Grund gehe, sondern sich lediglich an einer bestimmten Form ihrer »Globalisierung«, störe und sich mit einem Projekt der »Re-Regulierung« begnüge. In der Tat werden die destruktiven Momente der aktuellen Entwicklung an den letztlich als äußerlich gefassten multinationalen Konzernen, insbesondere dem internationalen Finanzkapital, festgemacht. Der kapitalistische gesellschaftliche Zusammenhang wird damit aufgespalten in prinzipiell destruktive – äußere – Kräfte, und fortschrittliche »innere« Instanzen, wie Wettbewerb oder auch »Gesellschaft«.

Nun wäre es allerdings ungenügend, die hier vorgestellte Variante von Globalisierungskritik mit dem durchaus richtigen Verweis auf ihren »Reformismus« ad acta zu legen. Wer so herangeht verkennt, dass in den Forderungen nach einem »Politikwechsel« der sozialen Akteure zugleich ein Anspruch auf gesellschaftliche Gestaltung enthalten ist, der seinerseits nicht von vornherein definiert ist, sondern Teil der Auseinandersetzungen ist, nicht zuletzt innerhalb der globalisierungskritischen Gruppen selbst. Mit anderen Worten: Wie »reformistisch« oder staatsfixiert globalisierungskritische Bewegungen wirklich sind, entscheidet sich nicht allein daran, welche Rolle sie dem Staat oder den Gewerkschaften zuschreiben, sondern auch daran, was sie unter »Gewerkschaften« und »Staat« verstehen – und wie sie also ihr eigenes Handeln in Bezug auf diese Institutionen konzipieren. Solche Unterschiede unterhalb der »Gesamtanalyse« müssen zur Kenntnis genommen werden, fragt man nach dem emanzipativen Potenzial globalisierungskritischer Gruppen. Am Beispiel Bundesrepublik und Frankreich soll dieser Gedanke nun ausgeführt und zugleich einige der interessanten Ansätze aus Frankreich vorgestellt werden.


Die bundesdeutsche Debatte: Kampf gegen falsches Bewusstsein...

Befragt man Diskutanten der bundesdeutschen

Gewerkschaftslinken, warum sich die Belegschaften nicht vehement gegen neue »Rationalisierungsstrategien«, gegen die »Entgrenzung« ihrer Arbeit, zunehmenden Leistungs- und Flexibilitätsdruck oder einer verstärkten »Segmentierung« der Arbeitsverhältnisse in Kern- und Randbelegschaften zur Wehr setzen, so lautet die Antwort: Gewerkschaften wie Belegschaften stünden massiv »unter Druck«, wofür insbesondere die »Massenarbeitslosigkeit«, wichtigstes Resultat der kritisierten Politik der Globalisierung, verantwortlich sei. Im Weiteren bleibt dann allerdings merkwürdig unbestimmt, inwiefern denn Arbeitslosigkeit die Situation von Beschäftigten derart verändert, dass sie mit »dem Rücken zur Wand« stehen. Tatsächlich geht es in der Fülle der Literatur dann gar nicht mehr um die durch Arbeitslosigkeit verschlechterten Handlungsbedingungen der Lohnabhängigen, sondern um deren Bewusstsein. Den abhängig Beschäftigten sei das Verständnis ihrer Lage, als bloße Objekte und Opfer der Kapitalverwertung abhanden gekommen, was zu dem Mangel an Gegenkraft zur Globalisierung geführt habe.

Etwas freundlicher wird in anderen Analysen auf die gestiegenen »Zukunftsängste« der Bevölkerung, die kämpferisches Verhalten verdränge, verwiesen. Eine Mehrheit der Bevölkerung »glaube«, es gäbe keine Alternativen zur aktuellen neoliberalen Politik. Doch auch hier geriert »falsches Bewusstsein« unter der Hand zum Ausgangspunkt der Analyse. Nicht von ungefähr ist die dann eingeklagte »Offensive« der Gewerkschaften vor allem als ideologischer Terraingewinn konzipiert. Es geht also im »Kampf um die Köpfe« darum, »mit der herrschenden Logik zu brechen«, um »fundierte und schlüssige Aufklärung« und »Überzeugung«. Indem allerdings die durch »Globalisierung« veränderten Lebensrealitäten der sozialen Akteure kaum in einen systematischen Bezug zu ih-rem »Bewusstsein« gesetzt werden, zerrinnt gleichsam die Verankerung der eingeklagten Offensive. Kampfesstärke erscheint plötzlich nur noch als eine Frage der Einsicht.


... und für den Erhalt traditioneller Gewerkschaftsstrukturen

Die Verschiebung der Problematik hin zur Ebene des Bewusstseins hat weitreichende Folgen für die Konzeption alternativer Gewerkschaftspolitik. Es wird nämlich letztlich unterstellt, es könne ohne weitere Voraussetzungen ein anderes Verständnis von der Welt und sogar ein anderes Handeln an den Tag gelegt werden. Konsequenterweise stehen in dieser Herangehensweise dann auch die gewerkschaftlichen Strukturen selbst nicht zur Disposition. So führen dieselben Autoren, die eben noch die Entsolidarisierung durch Massenarbeitslosigkeit beklagen, nun aus, dass die Zukunft von Gewerkschaften in einer Fortsetzung (!) der Organisierung qualifizierter Arbeit liege – und explizit nicht in der von »Marginalisierten«:

»Die Überwindung der Defensive wird maßgeblich davon abhängen, ob die Gewerkschaften die neuen, sehr buntscheckigen Kategorien der ›Wissensarbeiter‹ – die gleichsam der soziale Ausdruck der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte sind – für ihre Zukunftsperspektive überzeugen können. Und davon wird [...] abhängen, ob Solidarität [...] tatsächlich mit neuem Leben gefüllt werden kann. Dies wird nur in begrenztem Rahmen von fragmentierter, marginalisierter Arbeit ausgehen können, und von Arbeitslosen unmöglich herzustellen sein. Die Potenziale liegen dort, wo qualifizierte Arbeit verrichtet wird und diese über die entsprechende Ressourcen verfügt«. (Forum Gewerkschaften 2001, Seite 11)

Und in der Fußnote heißt es in Bezug auf Arbeitslose: »Solidarität kann nicht von den ›Opfern‹ durchbuchstabiert werden.« (ebenda) Hier wird ganzen Lohnabhängigengruppen ohne größere Diskussion die Fähigkeit abgesprochen ihre soziale Umwelt zu verändern. Für die eigentliche Problematik ist allerdings vor allem interessant, dass die von den Autoren selbst so betonte veränderte Situation der Belegschaften durch Arbeitslosigkeit offensichtlich keinerlei organisatorische Konsequenz für die Gewerkschaften hat. Es wird gar nicht gefragt, wie die den »WissensarbeiterInnen« zugeschriebene Rolle als »künftige Kernbelegschaften« zu den von den AutorInnen selbst beschriebenen Tendenzen der »Vereinzelung« und innerbetrieblichen »Vermarktlichung« am Arbeitsplatz gerade dieser Klientel passt. Ebenso ist der privilegierte Ort der Organisierung wie selbstverständlich wieder der Betrieb, völlig unvermittelt zu den von den Autoren genannten Momenten der »Fragmentierung« und »Dezentralisierung« von Unternehmen sowie der beschriebenen »Entgrenzung der Arbeit«. Die gleiche Leerstelle findet sich in Bezug auf die bestehende betriebliche Interessenvertretung: Trotz teilweise massiver Kritik an der aktuellen Betriebsratspolitik wird so gut wie nirgends die Institution Betriebsrat selbst daraufhin überprüft, inwieweit sie die kritisierte »Politik der Zugeständnisse« strukturell herbeiführt. Der Betriebsrat, gemeinhin als »Errungenschaft« betrachtet, wird mal in seiner »Schwäche« in Schutz genommen – der »Druck« sei eben zu groß – mal wird angemahnt, er solle anders, nämlich kämpferischer handeln, keine »Stellvertretermentalität« annehmen und sich neuen Aufgaben zuwenden. Wie dies geschehen soll, und ob es angesichts von »Massenarbeitslosigkeit« überhaupt möglich ist, bleibt offen. Als abschließendes Beispiel, wie in der bundesdeutschen gewerkschaftslinken Debatte die Strukturen und Modi der Interessenvertretung ausgeblendet bleiben, sei die Frage der »Mitgliedergewinnung« genannt, die von nahezu allen Beteiligten zur prioritären Aufgabe erklärt wird. Einerseits gibt es hier eine große Klage über die auffallende »Passivität« und das verbreitete »Stellvertreterdenken« vieler Mitglieder – andererseits führt dies erneut zu keiner Diskussion um ein verändertes Funktionieren von Gewerkschaften, beispielsweise in Richtung einer stärkeren Demokratisierung. Die Frage, ob sich die Gewerkschaftsmitglieder in ihrer Organisation wiederfinden, erscheint vielmehr als ein Willensakt der Betroffenen.

Um es zusammenzufassen: Quasi nirgends werden typische bundesdeutsche »Eckpfeiler« der Interessenvertretung in Zusammenhang gebracht mit der diagnostizierten Krise der Gewerkschaften. Vielmehr wird die Wiedergewinnung gewerkschaftlicher Kampfesstärke in einer Fortsetzung vermeintlich bewährter Institutionen der Interessenvertretung erblickt, die eben nur von ihrem aktuellen »falschen Bewusstsein« befreit und kämpferisch »gefüllt« werden müssten. Die in der aktuellen bundesdeutschen gewerkschaftslinken Debatte umherschwirrenden, radikal klingenden Vorschläge einer erneuerten Gewerkschaftspolitik, bspw. in Richtung einer Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen oder einer Internationalisierung der Gewerkschaftsarbeit, entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als harmlose Ergänzung der in ihrer Funktionsweise nirgends hinterfragten Gewerkschaftsinstitutionen.

Nun ist nichts gegen innergewerkschaftliche Umdenkprozesse oder die Wichtigkeit von Überzeugungsarbeit einzuwenden. Insbesondere hätten konsequente öffentliche Diskussionen gegen die immer aggressiveren »Maßnahmen«, von Hartz über Rürup bis Agenda 2010, und den ihnen vermeintlich zu Grunde liegenden Sach- und Kostenzwängen, eine herausragende Bedeutung, nicht zuletzt, um endlich die so erschreckend verbreitete Stimmung der Resig-nation aufzubrechen. Umgekehrt muss allerdings festgehalten werden, dass das Alternativprojekt bundesdeutscher Gewerkschaftslinker bislang relativ begrenzt ist: Die politische und soziale Emanzipation vom »Neoliberalismus« wird gedanklich auf das reduziert, was die bisherigen Institutionen der Interessenvertretung zulassen. Trotz aller Erneuerungsrhetorik werden so die prinzipiellen sozialen Rollen innerhalb wie außerhalb der Interessenvertretung gedanklich nicht problematisiert, sondern im Gegenteil – angesichts ihrer Bedrohung durch »shareholder« – noch harmonisiert, ihrer kontraproduktiven Seiten entledigt. Die Leute sollen arbeiten gehen in dem Betrieb, der seinerseits das gesellschaftliche Zentrum ist. Dort werden sie dann von den Gewerkschaften vertreten; Unternehmen sollen förderlichen »Wettbewerb«

betreiben und ordentliche Abgaben zahlen, dann kann wiederum der Staat eine vernünftige Sozialpolitik gestalten und insbesondere Arbeitslose versorgen. Dabei sind soziale Bewegungen »Bündnispartner« und auf der internationalen Ebene werden die Kontakte ausgebaut. Allerdings klingen derartige Eckpfeiler emanzipativer Überlegungen nicht zufällig seltsam unspektakulär. »Utopische« Ansprüche, »verrückte« Wünsche und insgesamt ein Raisonnieren über Möglichkeiten ganz anderer Formen von Gesellschaftlichkeit werden in ihnen gleichsam erstickt. Ohne eine Infragestellung »bewährter« Institutionen kann das Projekt der »Re-Regulierung der Wirtschaft« nicht mit weitergehenden gesellschaftlichen Konzeptionen verbunden werden.


Die französische Debatte: gemeinsamer Kampf gegen Prekarisierung ...

Was ist nun so anders in Frankreich, wo doch vorhin behauptet wurde, auch hier betreibe die Gewerkschaftslinke eine verkürzte staatszentrierte Globalisierungskritik? Der französische Soziologe Pierre Bourdieu rief bekanntlich vehement zur Verteidigung des Staates gegen die Bedrohung von außen – das Finanzkapital – und von innen – dessen Komplizen – auf.

Die Antwort lautet: In der linksgewerkschaftlichen französischen Debatte, steht genau das im Zentrum, was in der Bundesrepublik bislang kein Thema ist: die zunehmende Entsolidarisierung zwischen den verschiedenen, von der Globalisierung betroffenen sozialen Gruppen, ihre Konkurrenz untereinander, hervorgerufen durch die permanente Angst vor sozialem Abstieg. Diese Konkurrenz sei das Mittel, so Bourdieu, mit dem der Neoliberalismus seine politische Hegemonie durchsetze. Sie beginne als Konkurrenz um Arbeit und setze sich als Konkurrenz in der Arbeit fort und drohe, als »wirklicher Kampf eines jeden gegen jeden« sämtliche Werte der Menschlichkeit und Solidarität zu zerstören. Das Resultat dieser Konkurrenz so Bourdieu weiter ist »Prekarisierung«. Im deutlichen Unterschied zur bundesdeutschen Debatte wird Prekarisierung in Frankreich nicht an einer – wenn auch wachsenden – Randgruppe von Lohnabhängigen festgemacht, sondern Prekarisierung ist ein Phänomen, das alle trifft, insbesondere auch diejenigen, die gesicherte Einkommen haben und daher glauben, verschont zu sein:

Wenn aber »Prekarisierung« als das entscheidende Resultat von Globalisierung, als Verschlechterung der Lebensbedingungen nahezu aller Bevölkerungsteile verstanden wird, dann wird der »Kampf gegen Prekarisierung« nicht nur zur prioritären, sondern – da nahezu »alle« von ihr betroffen sind – zugleich zur jeweils ureigensten Angelegenheit. Mit anderen Worten: Der gemeinsame Kampf gegen Prekarisierung, und damit gegen »neoliberale Globalisierung«, ist in diesen gewerkschaftslinken Kreisen oberste Maxime. Die sozialen Unterschiede bspw. zwischen Betriebsbelegschaften und Arbeitslosen sind nach dieser Betrachtung jeweils nur spezifische Ausformungen einer übergreifenden Gemeinsamkeit, nämlich der, von wachsender sozialer Unsicherheit durch »Globalisierung« betroffen zu sein. Das heißt nicht, dass es in den konkreten Auseinandersetzungen keine unterschiedlichen Kampfesstärken geben würde, doch die, für die bundesdeutsche Debatte skizzierte gedankliche Trennung zwischen potenziell kämpferischen Kernbelegschaften und versorgungsbedürftigen Marginalisierten findet sich hier in der französischen Diskussion nicht: Die Erfahrung der Pauperisierung »sozial Schwacher« ist zugleich die Konzentration dessen, was die gesamte Bevölkerung unter den Bedingungen der Globalisierung erlebt, ihre Auseinandersetzungen daher exemplarisch für die eigene. So erfolgte die Unterstützung der »Sans Papiers« (der MigrantInnen ohne Aufenthaltspapiere) in ihrem Kampf um Legalisierung durch die Reformgeschwerkschaften »sud« nicht allein aus der Überlegung heraus, deren »Menschenrecht« auf materielle Absicherung geltend zu machen, sondern im Vordergrund stand zugleich der Gedanke, dass Illegale – zu Schwarzarbeit gezwungen – am stärksten Prekarisierten sind. Damit hängt eine dauerhafte Verbesserung der eigenen Situation durchaus davon ab, inwieweit der Kampf der Sans Papiers um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, und das heißt in erster Linie Papiere, erfolgreich ist. Andere gewerkschaftliche Aktionen und Vernetzungen rekurrieren auf den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Lohndruck einerseits und Überarbeit, häufige Unfälle und zunehmende Krankheiten in den Betrieben andererseits.

Als weiteres Beispiel sei die Debatte um den »Öffentlichen Dienst« genannt, in der teilweise in spektakulären Aktionen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Einstellungen, Lohnerhöhungen und eine kostenlose Versorgung für alle, einschließlich der Sans Papiers, gefordert und teilweise durchgesetzt wurde.

In solchen Überlegungen und praktischen Ansätzen wird auf den sozialen Zusammenhang zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen insistiert, um ihn für eigene gewerkschaftliche Ansätze nutzbar zu machen. Die »strukturelle Gewalt der Konkurrenz«, so heißt es, müsse umgekehrt werden in ein Erkennen der gemeinsamen Interessen, die in einer Abwehr der Verschlechterung und im Recht auf eine »Ökonomie des Glückes« bestünden.


... für neue Formen von Interessenvertretung ...

Wenn aber die Überwindung der Konkurrenz zur Bedingung für einen erfolgreichen Kampf gegen »Prekarisierung« und »Globalisierung« gemacht wird, ist es nur konsequent, die jeweiligen sozialen Auseinandersetzungen zuvorderst daraufhin zu befragen, inwieweit sie die unmittelbar eigenen Anliegen in einen Zusammenhang zu den Problemlagen anderer sozialer Gruppen und ihrer Kämpfe stellen. Mit anderen Worten: Übergreifende Solidarisierung wird zum zentralen Maßstab der Beurteilung von sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen. Bourdieu selbst hat dies vorgeführt, als er den großen Streik im Öffentlichen Dienst 1995 vehement unterstützte, weil – wie die Massendemonstrationen mit Arbeitslosen, Beschäftigten der Privatindustrie, Studenten usw. gezeigt hätten – die Streikenden nicht nur ihre, sondern zugleich die Interessen all jener formuliert hätten, auf deren Kosten der »Liberalismus« betrieben würde (Bourdieu 1995). Auch für die zwei Jahre später sich ausweitende und radikalisierende französische Arbeitslosenbewegung begeisterte sich Bourdieu, aber im Gegensatz zu anderen nicht, weil es um den »Einschluss« der Ausgestoßenen in die Gesellschaft ginge, sondern weil die Bewegung die Mechanismen der allgemeinen »Degradierung« der Arbeit durch Arbeitslosigkeit voranstelle – und also die Arbeits- und Lebensbedingungen aller Lohnabhängigen thematisiere (Bourdieu 1998).

Ein solcher Anspruch, der hier gegenüber gewerkschaftlichen und sozialen Bewegungen formuliert wird, hat organisatorische Konsequenzen: Namentlich gewerkschaftliche Interessenvertretungen müssten Form und Funktionieren radikal ändern, wollten sie dem Neoliberalismus ihre Solidarität entgegensetzen. Man müsse aus den »ouvieristischen« Organisationsansätzen ausbrechen und sich den sozialen Bewegungen zuwenden, man müsse völlig neu überlegen, wie sozialer Protest zu denken und zu organisieren sei (Bourdieu 1998).

Ganz ohne Zweifel formuliert Bourdieu solche Überlegungen unter dem Eindruck des Streiks von 1995 und den anschließend erstarkenden linksgewerkschaftlichen Organisationsansätzen. Dieser Streik war nämlich, wie Beteiligte, Kommentatoren und Wissenschaftler immer wieder feststellten, durch genau jenes Moment besonders gekennzeichnet: Dem Willen, die Kämpfe der verschiedenen sozialen Gruppen zusammenzuführen, was in Massendemonstrationen weit über die eigentlichen Streikgruppen hinaus, täglichen städtischen Vollversammlungen und einer Fülle von lokalen und regionalen Netzwerken bemerkenswert weit umgesetzt wurde. Die zweite herausragende Besonderheit dieses Streiks war, dass weitgehend »die Basis« Beginn, Verlauf und auch Ende der Auseinandersetzungen bestimmte. Entscheidungen über Aktionen, Forderungen und weiteres Handeln wurde verbreitet auf Vollversammlungen getroffen. Diese waren nicht nur Gewerkschaftsmitglieder-Versammlungen, sondern darüber hinaus »Bürger-Versammlungen«, mit all jenen, die sich in die Bewegung einzubringen gedachten. Ein solcher massenhafter »Wille der Basis, die Bewegung zu kontrollieren« (Martin 1998) übersetzte sich – nach Abklingen der Bewegung – nicht zufällig in einen bemerkenswerten Aufschwung von linksautonomen Gewerkschaften, insbesondere den »sud«-Gewerkschaften, die mittlerweile vor allem im Öffentlichen Dienst verankert sind.

Um »mit den Mitgliedern zu kämpfen, und nicht für sie« wurden in diesen Gewerkschaften eine Reihe von Prinzipien verankert: limitierte Befugnisse, Einkommen, Mandate für Hauptamtliche, ein Rotationsprinzip und generell die Kontrolle des – vergleichsweise kleinen – Apparats durch Regionen und Mitglieder. Vor allem nach 1995 kommt ein weiteres, grundlegendes Element für das Selbstverständnis dieser Basisgewerkschaften hinzu: Ganz im Sinne der Streikbewegung definiert sie sich nun als »Gewerkschaft der sozialen Transformation« – einer Gewerkschaft, die dem »Neoliberalismus« eigene Vorstellungen gesellschaftlicher Veränderungen entgegensetzen will und die dafür mit all jenen Kräften zusammenarbeitet, die ein gleiches Anliegen haben.

Die bemerkenswerte Zusammenarbeit mit den

Arbeitslosen, den Sans Papiers, den Obdachlosen-, Frauen-, Umwelt- oder Bauernbewegungen besteht dabei nicht in formellen Zusammenschlüssen, Flugblattunterschriften oder materieller Unterstützung, sondern wird – wie schon das »tous ensemble!« des Streiks – durch eine Fülle von Arbeits- und Diskussionsprozessen jeweils inhaltlich fundiert und hergestellt. Entsprechend den Lebenslagen und Bedürfnissen der Beteiligten werden mögliche gemeinsame Forderungen formuliert, umgekehrt aber auch Divergenzen festgestellt, um dann auf Basis der Gemeinsamkeiten politische Aktionen durchzuführen, wie die Verhinderung von Abschiebung illegaler Einwanderer, die Besetzung leerstehenden Wohnraums oder auch von Verkehrsmitteln (um kostenlosen Transport durchzusetzen), die Mobilisierung gegen Atomtransporte, die Verteidigung verfolgter nordafrikanischer Frauen oder auch die intensive Beteiligung an den »Europäischen Märschen gegen Arbeitslosigkeit und Prekarisierung«. Im deutlichen Unterschied zur bundesdeutschen Debatte, wo sich die Gewerkschaften, sofern es überhaupt zu einer Zusammenarbeit mit Bewegungen kommt, mehrheitlich als Avantgarde ansehen, betonen die französischen AktivistInnen den inhaltlichen Gleichrang der Anliegen und versuchen ihm durch enge Zusammenarbeit bei gleichzeitiger Souveränität aller beteiligten Kräfte zu genügen: Die sogenannte Autonomie sozialer Bewegungen ist spätestens seit der Arbeitslosenbewegung ein Grundpfeiler im Selbstverständnis dieses Aktivistenmilieus.

Doch innerhalb von gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich dynamisch verändern und dabei zugleich die Konkurrenz zwischen den sozialen, ethnischen und geschlechtlichen Gruppen um materielle und geistige Wohlfahrt weiter verschärfen, kann die Suche nach gemeinsamen Interessenlagen nur erfolgreich sein, wenn sie nicht nur als demokratischer, sondern zugleich als permanenter Prozess konzipiert ist. Es geht um ein Gewerkschaftsverständnis, was beständig nach den Gemeinsamkeiten sucht. Dies beinhaltet, dass die einmal gebildeten Netze und Forderungsplattformen nicht als selbstverständlich und für immer gegeben angesehen werden können – ebenso wie das Prinzip der Basisdemokratie in den »sud«- Gewerkschaften – sondern über konfliktorische Auseinandersetzungen immer wieder neu definiert werden muss.

In der Tat ist in den letzten Jahren von gewerkschaftlicher Seite auch eine Rückkehr zum Alltagsgeschäft zu beobachten. So waren bspw. die Auseinandersetzungen um die 35-Stunden-Woche wieder vornehmlich durch betriebliche Kämpfe charakterisiert, ebenso wie in weiten Teilen die derzeitige Streikbewegung. Doch selbst wenn die sozialen Auseinandersetzungen wieder stärker auf dem »eigenen Terrain« stattfinden, und der übergreifende Zusammenhalt vor allem eine Sache gemeinsamer Demonstrationen und Meetings (bspw. zur Unterstützung von José Bové oder zu den internationalen Demonstrationen der »Antiglobalisierungsbewegung«) geworden ist, so kann die breite kollektive Erfahrung damit, dass »Gewerkschaft« etwas ganz anderes sein kann, als eine hierarchische »Massengewerkschaft« die sich vor allem auf »Kernbelegschaften« stützt, aus der gewerkschaftlichen Diskussionszusammenhängen nicht mehr weggedacht werden. Eine solche Erfahrung der Veränderbarkeit von Institutionen bleibt vielmehr umgekehrt nicht auf die Gewerkschaften beschränkt.


Von der Neudefinition von Gewerkschaften zur Infragestellung gesellschaftlicher Institutionen

Anders als in der Bundesrepublik ist die »Politisierung der Gewerkschaften« in dem hier skizzierten »links-gewerkschaftlichen« Teil der Debatte in Frankreich nicht als eine Rückkehr zu bewährter Gewerkschaftspolitik konzipiert, sondern als offener Prozess in dem die Formen der Interessenvertretung selbst zur Disposition stehen. Das heißt aber, dass die gewerkschaftlichen Institutionen den Ansprüchen und Vorstellungen der Lohnabhängigen (in ihrem Kampf gegen den Neoliberalismus) genügen müssen – und nicht umgekehrt. Und eben dieser Gedanke wird in der Debatte über gewerkschaftliche Fragen hinaus ausgeweitet. Es geht um ein »Recht auf Aufenthalt«, um ein »Recht auf soziale Sicherheit«, ein »Recht auf Partizipation«, ein »Recht auf Bildung«, einen »öffentlichen Dienst für alle«, ein »Recht auf saubere Umwelt«. An diesem Verlangen der »Bürger« – verstanden als: »alle Menschen«, unabhängig von ihrem formalen Bürgerstatus – nach Glück, Wohlstand und Lebenssinn müssen sich gewerkschaftliche Strukturen, aber auch Grundpfeiler der Gesellschaft, wie Staat, Recht oder »Wirtschaft« messen – und geraten also in prinzipielle Kritik.

Gesellschaftliche Sphären und Institutionen werden damit als veränderungsbedürftig konzipiert, entsprechend den ständig – in Gewerkschaften, Bewegungen, Diskussionskreisen und auch in attac – debattierten und sich entwickelnden Maßstäben eines »Rechtes auf schönes Leben«. Nicht zuletzt von den Linksgewerkschaften werden so Vorstellungen von Selbstbestimmung, alternativen Lebens- und Gesellschaftsformen und einer anderen Art des Wirtschaftens über die bestehenden Verhältnisse hinausgetrieben – und damit an Überlegungen einer prinzipiell neuen, nachkapitalistischen Produktions- und Lebensweise überhaupt erst anschlussfähig.

Die Gegenüberstellung der französischen und der bundesdeutschen linksgewerkschaftlichen Debatten sollte nicht dazu dienen, letztere in »Sack und Asche zu hauen«. Auch die französische Diskussion hat aus kapitalismuskritischer Perspektive das Problem, Globalisierungskritik als Re-Regulierung einer vermeintlich »entfesselten« Ökonomie zu konzipieren und so nur ungenügend auf kapitalistische Verwertungszwänge einzugehen. Allerdings sollte die bundesdeutsche Gewerkschaftslinke zur Kenntnis nehmen, dass »Re-Regulierung« als offener, von den Lebensansprüchen der Bevölkerung ausgehender Prozess gedacht werden kann. Die Gestaltbarkeit der Gesellschaft – auf die ja die GlobalisierungskritikerInnen gegen die vermeintlichen Sachzwänge zu Recht insistieren – wird so ein von den Menschen getragener Prozess der sozialen Transformation und nicht ein politischer Strategiewechsel des Staates.


Stefanie Hürtgen


>texte<

<-> Béroud, Sophie / René Mouriaux: Le souffle de décembre. Le mouvement de décembre 1995. Continuités, Singularités, Portée. Paris

<-> Bischoff, Joachim / Richard Detje (1997): Die Ideologie der zweiten Moderne: Globalisierung. in: Pierre Bourdieu / Claude Debons / Detlef Hensche/Burkhart Lutz u.a.: Perspektiven des Protestes. Initiativen für einen europäischen Wohlfahrtsstaat. Hamburg

<-> Bourdieu, Pierre (1995): Combattre la technocratie sur son terrain. Rede vor streikenden Eisenbahnern am Gare de Lyon, Paris, am 12. Dezember 1995. zit. nach: http://www.homme-moderne.org/societe/socio/bourdieu/index2.html

<-> Bourdieu, Pierre (1998): Contre-feux. Propos pour servir à la résistance contre l'invasion néo-liberale, verschiedene Beiträge Paris ed. Raisons d'agir

<-> Coupè, Annick/Anne Marchand (ed.) (1998): Sud. syndicalement

incorrect/Sud-Ptt une aventure collective. Paris

<-> Forum Gewerkschaften (2001): Jenseits von Modernisierung und Utopie. Zur Zukunfts- und Programmdebatte in den Gewerkschaften. Supplement der Zeitschrift Sozialismus Nr. 11

<-> König, Otto/Richard Detje (2002): Alphabetisierung – Der Kampf um die Köpfe. in: Sozialismus Nr 1, S. 28-29.

<-> Zinn, Karl Georg (1997): Globalisierung ist Mythenbildung. In: Gewerkschaftliche Monatshefte. Heft 4(1997); S. 251-256

<-> Zinn, Karl-Georg (2002): Die Globalisierung ist politisch gemacht. Interview mit Karl Georg Zinn in: Junge Welt, 29.06.2002, zitiert nach: http://www.jungewelt.de/2002/06-29/007.php