Die Bedeutung des Aufstandes der Zapatistas ende
inhalt
Kirsten Neumann und Malte Lantzsch
     
Einleitung weiter
 

Im Januar 1996 rief die EZLN zum »Ersten Interkontinentalen Treffen für die Menschheit und gegen den Neoliberalismus« auf und veränderte damit das Koordinatensystem der Solidaritätsbewegung. Adressaten des Treffens waren nicht mehr hauptsächlich die Mexiko-Gruppen, sondern die sozialen und politische Bewegungen der Linken, auch wenn diese erst mal nicht reagierten. Die neue Parole hieß: »Gegen die Internationale des Schreckens, die der Neoliberalismus darstellt, müssen wir die Internationale der Hoffnung aufstellen.« Spannend war der Aufruf der Zapatistas wegen zweier Faktoren: Erstens gab es nach dem Zerfall des realexistierenden Sozialismus und der damit verstärkten Krise der Linken erstmals wieder so etwas wie einen Hoffnungsschimmer in der allgemeinen Ratlosigkeit. Und zweitens entsprach das plurale, offene Konzept des Treffens dem, was viele Restlinke aus dem Scheitern des realen Sozialismus als Lektion verinnerlicht zu haben schienen: Bloß keine führende Rolle der Partei mehr und bloß keine verbindliche politische Linie!
So kamen Ende Mai 1996 über 1 000 Menschen zum europäischen Treffen gegen den Neoliberalismus in Berlin und über 3 000 im August desselben Jahres zum ersten »Intergalactico« in den Lacandonischen Urwald in Chiapas. Und auch das Zweite Interkontinentale Treffen in Spanien lockte jede Menge Linke an. Trotz des intergalaktischen Anspruchs versammeln sich hauptsächlich Westeuropäer und Nordamerikaner, den Gruppen aus dem Trikont und Osteuropa mangelt es an Finanzen und Informationen.

 

 
Chronologie und Hintergründe des Aufstandes und die Gründung der EZLN (1) weiter / zurück
 

1974 kommt es zu Zusammenstössen zwischen den Fuerzas Armadas de Liberacion Nacional (Bewaffnete Kräfte der nationalen Befreiung – FALN) und paramilitärischen Gruppen (die von Großgrundbesitzern bezahlt und beauftragt wurden), sowie Militärverbänden in Gemeinden der Selva Lacandona im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, in dem es bereits damals sehr große Landkonflikte gegeben hat. Die Guerilla wurde von Militanten der Studentenbewegung von 1986 gegründet, die nach dem Massaker von Tlaltelolco auf das Land gegangen sind. Die FALN oder auch FLN konnte ein großes Netz von Guerillagruppen rund um Ocosingo, einer Stadt in Chiapas, aufbauen. Anfang der 80er Jahre kehrten einige von ihnen wieder in die Städte zurück und der Rest (6 Leute) gründete am 17. November 1983 die EZLN. Die EZLN versteht sich seit damals als bewaffneter Arm der sozialen Basisbewegungen in Chiapas.
Die Schwäche des Korporativismus von der Staatspartei PRI (Partei der Institutionellen Revolution) und der CNC (staatliche Bauerngewerkschaft) führte zu einer langjährigen Erfahrung an antiinstitutioneller radikaler Opposition, für die KleinbäuerInnen in Chiapas beispielsweise hatte der Staat mit seinen Institutionen kaum Integrationskraft, während sich in vielen anderen Landesteilen ArbeiterInnen und BäuerInnen in staatlichen Organisationen organisierten. Die regionale Oligarchie ist in Chiapas sehr mächtig, es gab zum Beispiel in diesem Bundesstaat, im Vergleich zu anderen, keinen Ansatz einer Landreform. Die Repression gegen kleinbäuerliche Zusammenschlüsse ist sehr groß. In anderen Teilen Mexikos wurde versucht, diese Strukturen in staatliche Institutionen einzubinden. Der Spielraum für unbewaffnete, legale Oppositionsaktivitäten war von daher sehr gering, von den Delegierten des ersten KleinbäuerInnenkongresses 1974 in Chiapas beispielsweise überlebten nur sehr wenige, deswegen entschieden sich viele für klandestine Organisierungsformen und schließlich auch für den bewaffneten Kampf.

Am 12. Oktober 1992, dem 500. Jahrestag der Landung von Kolumbus in Amerika, zogen rund zehntausend indigene KleinbäuerInnen aus den umliegenden Dörfern nach San Christóbal. Im Zentrum der Stadt zerstörten sie die Statue von Diego de Mazariegos, der 1527 das Hochland von Chiapas unterworfen hatte, ein Symbol für die jahrhundertelange Ausbeutung der LandarbeiterInnen mit dem Prinzip der Schuldknechtschaft. In Chiapas, einer der fruchtbarsten Regionen Mexikos, sind die vielen Latifundien eine grausame Tradition, der Ausbeutung von LandarbeiterInnen. Bis heute sind landlose ArbeiterInnen gezwungen, ihr Geld als TagelöhnerInnen auf beispielsweise Kaffeegroßplantagen zu verdienen und bekommen oft nicht mehr als einen Hungerlohn für ihre Arbeit.
In den frühen Morgenstunden des 1. Januar 1994 besetzten etwa tausend Zapatisten vier Ortschaften des mexikanischen Bundesstaates Chiapas (San Cristobal de las Casas, Altamirano, Ocosingo, Las Margaritas). Sie erklärten der mexikanischen Regierung den Krieg. Politische Gefangene wurden befreit, erbeutete Lebensmittel und Arzneimittel an die notleidende Bevölkerung verteilt. Die mexikanische Regierung schickte daraufhin über zehntausend Soldaten nach Chiapas, etwa 400 Zapatisten wurden getötet. Exekutionen, Verhaftungen und Folter durch das mexikanische Militär waren dabei gängige Praxis.

Warum nahm die EZLN den bewaffneten Kampf auf? In den Dörfern Chiapas fehlen zum größten Teil die elementarsten Grundlagen zum Leben: Es gibt keine Gesundheitsversorgung, Menschen sterben an heilbaren Krankheiten, es gibt keine ausreichenden Bildungsmöglichkeiten, die Analphabetenrate ist erschreckend hoch, es gibt nicht genügend zu essen, 70 Prozent der Kinder sind unterernährt, es gibt kaum Strom und fließendes Wasser, die Säuglingssterblichkeit und die Sterberate von Frauen bei der Geburt sind extrem hoch, die Lebenserwartung niedrig, in vielen Dörfern gibt es keine Kanalisation, die Löhne sind niedrig, die Arbeitslosigkeit hoch.
Die Regierung Salinas, die 1988 durch massiven Wahlschwindel an die Macht kam, hielt das ejido-System für die Ursache der landwirtschaftlichen Probleme Mexikos. Unter ejido ist Land zu verstehen, das dem Staat gehört, und den Bauern/Bäuerinnen zur kollektiven Bearbeitung übergeben wird. Seit jeher war die Agrarstruktur in Chiapas so geprägt, dass der größte Teil des Landes und die besten Böden einigen wenigen GroßgrundbesitzerInnen gehörte und den indigenen KleinbäuerInnen nur unfruchtbares Land mit Steinböden zur Verfügung gestellt wurde. Viele von ihnen wurden gezwungen, für die Großgrundbesitzer als SklavInnen unter schlechten Arbeitsbedingungen zu arbeiten. Durch eine Agrarreform der Regierung Salinas wurde das ejido-System praktisch zerstört, es kam zum Verkauf des Gemeinwesens, und somit wurde das bisher verstaatlichte Land dem Zugriff des Kapitals ausgesetzt. Dies bedeutete die Zerstörung der letzten Lebensgrundlage vieler KleinbäuerInnen. Im Kerngebiet der EZLN in Chiapas leben etwa 17.000 KaffeekleinproduzentInnen, von denen 93% über Parzellen von 2 ha verfügen. Der Preisverfall des Kaffees und die neoliberale Agrarpolitik (mit einer Agrarexpansiven Exportpolitik) hat sie mit besonderer Härte getroffen. Dazu gehören die NAFTA-Verträge (North Atlantik Free Trade Agreement, ein Freihandelsabkommen, das 1994 zwischen den USA, Kanada und Mexiko abgeschlossen wurde) und die Deform des Verfassungsartikels 27, der die zur Verfügungstellung von staatlichem Land für die Kommunen als Agrarland (ejidos) regelt. Infolge dessen entwickelte sich eine enorme Selbstorganisierung der regionalen KleinbäuerInnen, um der zunehmenden sozialen und wirtschaftlichen Ausgrenzung und Verelendung etwas entgegenzusetzen.
Seit Jahren wurden Bäuerinnen und Bauern aus Chiapas von paramilitärischen Einheiten der Großgrundbesitzer von ihrem Besitz vertrieben und ermordet, Landbesetzungen durch landlose BäuerInnen wurden von der mexikanischen Armee, der Polizei und paramilitärischen Einheiten gewalttätig beendet. Die Vertreibung der Bauernfamilien und die damit einhergehende Ausweitung des Landbesitzes der Großgrundbesitzer dient beispielsweise der Vergrößerung von Viehherden, dem Errichten von Wasserkraftwerken und Erdölförderanlagen. Durch die Wasserkraftwerke wurde immer wieder Ackerland von KleinbäuerInnen überschwemmt und somit unbrauchbar gemacht.

Am Tag des Aufstandes der EZLN trat NAFTA in Kraft. Die Existenz vieler KleinbäuerInnen stand auf dem Spiel, und deshalb richtet sich der Aufstand auch explizit gegen das Abkommen. Der NAFTA-Beitritt Mexikos ist der Höhepunkt des neoliberalen Kurses der Regierung. Bereits 1986 trat Mexiko dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) bei und stellte damit die Weichen für die Durchsetzung des neoliberalen Konzeptes, in dessen Zuge es etwa zu massiven Privatisierungen von Staatsbetrieben, der bereits erwähnten marktorientierten Landreform, Einschränkungen von Staatsausgaben und Subventionskürzungen kam. Durch das GATT kam es zu einer Importabhängigkeit Mexikos, die Importe stiegen viel schneller als die Exporte, das Budgetdefizit stieg immer mehr an. Die Dependenz der mexikanischen Ökonomie besteht vor allem zu den USA. In Vorbereitung auf NAFTA fielen alle gesetzlichen Beschränkungen für den Import von Getreide und Kaffee, also jenen Produkten, die eine wesentliche Lebensgrundlage mexikanischer Bauern darstellen.
Die neoliberale Politik Salinas verringerte die Inflation und sorgte bis 1994 für ein jährliches Wirtschaftswachstum von etwa 3 Prozent. Viele sprachen von einem »mexikanischen Wirtschaftswunder«. Die Anzahl der MexikanerInnen, die unter der Armutsgrenze leben, stieg parallel dazu bis zum Ende der Salinas-Ära auf 40 Millionen an ([Huffschmid1996]), die Preise stiegen auf US-Niveau, die Schere zwischen Arm und Reich wurde immer größer. Barrieren für Auslandsinvestoren wurden abgebaut und die Importe liberalisiert. Dadurch gelangten Waren ins Land, die bisher von den Bäuerinnen und Bauern in den ländlichen Gebieten produziert wurden. Diese konnten in vielen Fällen der Konkurrenz vor allem aus den USA nicht mehr standhalten und wurden somit ihrer Existenzgrundlage beraubt.
Im Zuge der politischen Unruhen in Mexiko verließen 1994 etwa 13 Milliarden Dollar Mexiko (ebd.), wodurch es im Dezember 1994 zu einer Abwertung und einer Kursfreigabe des Pesos kam. Durch eine Aufwertung steigen die Inlandspreise für AusländerInnen und sinken die Preise ausländischer Güter für InländerInnen. Effekte sollen die Abnahme der Exporte und die Zunahme der Importe sein. Bei einer Abwertung ist es umgekehrt: Inlandspreise sinken und Auslandspreise steigen, Exporte sollen zunehmen und Importe abnehmen. Durch die Abwertung des Peso wollte die mexikanische Regierung Investitionen aus dem Ausland wieder attraktiver machen. Die Folgen davon waren u.a. Massenentlassungen und dadurch eine Verdopplung der Arbeitslosigkeit, Preissteigerungen und sinkende Kaufkraft. Tausende Betriebe gingen bankrott, dabei muss die Importabhängigkeit der mexikanischen Wirtschaft in Betracht gezogen werden: Importe nach Mexiko wurden durch die Abwertung viel teurer. 1995 sank das BIP Mexikos um 7 Prozent, die Inflation überschritt die 50 Prozent-Marke und die Auslandsverschuldung stieg auf 170 Milliarden Dollar an ([Huffschmid1996]).
Der damalige Finanzminister Mexikos machte Subcommandante Marcos für die ökonomische Krise Mexikos verantwortlich, da die EZLN die ausländischen Investoren vertrieben habe. Im Zuge von Wirtschaftskrisen ist eine solche eindimensionale Logik oft schnell zur Hand.

Am 21. Februar 1994 begannen Gespräche zwischen VertreterInnen der EZLN und RegierungsvertreterInnen. Die EZLN forderte u.a. eine wirklich demokratische Wahl, den Rücktritt der PRI-Regierung und den Einsatz einer Übergangsregierung, Strom für alle chiapanekischen Gemeinden, Revision des NAFTA, kostenlose Bildungsmöglichkeiten, Krankenhäuser, Kinderkrippen, etc. für die Gemeinden Chiapas´, Enteignung der Großgrundbesitzer und Übergabe des Landes an die Campesinos, Autonomie für die indigenen Gruppen, Freiheit für alle politischen Gefangenen, Entschädigung jener Familien, die Schäden durch die Bombardements der Regierungstruppen erlitten hatten, sowie der Kriegswitwen und Waisenkinder, Verfahren gegen die letzten drei Gouverneure von Chiapas, keine Prozesse gegen KämpferInnen, Mitglieder oder SympathisantInnen der EZLN (vgl. [Topitas1994]).
Die Regierung antwortete darauf mit einem Angebot, das aber nicht auf einen zentralen Punkt der Forderungen der EZLN einging: Die Auflösung des herrschenden politischen Einparteiensystems, der Rücktritt der Regierung und die Durchführung von fairen, demokratischen Wahlen. Die EZLN befragte ihre Basis bezüglich der Annahme oder Ablehnung des Regierungsangebotes, was mit einem deutlichen »Nein« beantwortet wurde. Sie rief daraufhin einen einseitigen Waffenstillstand aus und garantierte, den Ablauf der bevorstehenden Wahlen nicht zu stören. Die Zapatistas betonen immer wieder, dass sie nicht die Macht ergreifen wollen, sondern dass sie für die Anliegen der indigenen Gruppen und für »Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie« kämpfen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Situation in Mexiko ähnlich wie in den 90ern: Einige wenige GroßgrundbesitzerInnen kontrollierten den Großteil des Landes. 1910 kam es im Bundesstaat Morelos zu Aufständen gegen das Díaz-Regime, woraufhin Díaz zurücktrat. Daraufhin übernahm Francisco Madero die Macht, er führte die versprochene Agrarreform jedoch nicht durch. Emiliano Zapata, der die Agragista anführte, aberkannte daraufhin im »Plan von Ayala« Madero die Präsidentschaft und forderte eine Neuaufteilung des Großgrundbesitzes. 1913 putschten die Regierungstruppen gegen Madero und General Huerta kam an die Macht. Er versuchte die zapatistischen Armeen zu zerschlagen. Im Norden bildeten sich zwei Widerstandsgruppen: die Constitucionalistas unter Venustiano Carranza und die División del Norte unter Pancho Villa. Es kam schließlich zur Niederlage Huertas und Carranza ernannte sich zum Präsidenten. Er wurde jedoch nicht anerkannt und Zapatas und Villas Armeen marschierten in Mexiko-City ein. Daraufhin floh Carranza. 1917 wurde eine neue Verfassung verabschiedet. Im Artikel 27 war Zapatas Forderung, dass das Land denen gehören sollte, die es bearbeiten, enthalten. 1991 wurde dieser Artikel durch die Regierung Salinas geändert. 1919 wurde Zapata im Auftrag Carranzas ermordet. Carranza selbst wurde auf Befehl seines Nachfolgers Obregón getötet, Pancho Villa wurde 1923 ermordet. In Morelos führte Zapata eine Agrarreform durch: Die Großgrundbesitzer wurden enteignet und ihr Land an die Bauernfamilien verteilt. Es entstanden selbstverwaltete, nach basisdemokratischen Prinzipien regierte Dorfgemeinschaften. Durch eine Agrarreform der mexikanischen Regierung in den 20ern wurde diese Autonomie weitgehend zerstört. Die EZLN bezieht sich sowohl in ihrem Namen als auch in ihren Forderungen auf Emiliano Zapata.

Die EZLN rief für den August 1994 zu einem Treffen aller fortschrittlichen mexikanischen Kräfte auf. Und so trafen sich 6000 Delegierte vom 6. bis 9. August 1994 in Aguascalientes in Chiapas zur Convención Nacional Democrátia (CND). Inhaltlich einigten sie sich auf die folgenden Ziele für das politische System Mexikos: die Durchführung von fairen, demokratischen Wahlen, die Auflösung des Einparteiensystems der Staatspartei PRI, Einsetzung eines/einer Übergangspräsidenten/-in und die Korrektur des neoliberalen Wirtschaftskurses. Schließlich erfolgte noch ein Aufruf zur Stimmabgabe gegen die PRI bei den bevorstehenden Wahlen. Die EZLN verstand sich nur als Gastgeberin des Demokratischen Nationalkonvents und beschränkte ihre Teilnahme auf 20 Delegierte.
Am 21. August 1994 gab nach offiziellen Meldungen eine Mehrheit der wahlberechtigten Personen der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) und ihrem Präsidentschaftskandidaten Ernesto Zedillo ihre Stimme. Laut den Berichten internationaler WahlbeobachterInnen kam es zu massivem Wahlschwindel: Stimmauszählungen wurden gefälscht, Stimmabgaben konnten nicht geheim erfolgen, Wahlbeteiligungen über 100 Prozent, mehr Stimmzettel in den Urnen als abgegebene Stimmen, Drohungen, Annullierung von gültigen Stimmzetteln, Militär in den Wahllokalen, Ausschluß der Opposition von Stimmauszählungen, falsche WählerInnenevidenz, erzwungene Stimmabgaben für die PRI etc.
Anfang 1996 unterzeichneten die Zapatistas und die Regierung Mexikos die Verträge von San Andres. Darin wurden Rechte der Indigenas in Mexiko formuliert. Die Aufnahme dieser Rechte in die mexikanische Verfassung und die tatsächliche Berücksichtigung und Umsetzung durch die mexikanische Regierung stehen jedoch noch immer aus. Immer wieder kommt es in Chiapas zu Massakern in Dörfern, die durch das mexikanische Militär oder paramilitärische Einheiten der GroßgrundbesitzerInnen durchgeführt werden, um die zapatistische Bewegung zu schwächen. Weitere Mittel sind die Zerstörung von Dörfern, Folter und das »Verschwindenlassen«. Diese Form der Aufstandsbekämpfung wurde vom CIA entwickelt, an der »School of the Americans« trainiert und in ganz Lateinamerika angewendet.

Für den 21. März 1999 riefen die Zapatistas die mexikanische Bevölkerung zu einer Consulta Nacional auf, einer Befragung der Zivilgesellschaft. Es ging darum, ob indigene Rechte in die mexikanische Verfassung aufgenommen werden sollen, ob der Krieg der mexikanischen Regierung gegen die Zapatistas beendet werden soll, der Bundesstaat entmilitarisiert werden soll (zehntausende Soldaten und tausende Paramilitärs sind anwesend), ob die Verträge von San Andres durch die Regierung umgesetzt und der dort aufgenommene Dialog fortgesetzt werden soll. Drei Millionen Menschen beteiligten sich daran und stimmten zu 95 Prozent positiv über die Forderungen der EZLN ab. Schon 1995 hatte eine solche Befragung stattgefunden, nämlich darüber, ob die EZLN bewaffnet weiter kämpfen oder Verhandlungen mit Mexikos Regierung führen soll. Damals beteiligten sich an die 2 Millionen Menschen an der Befragung. Es handelt sich dabei nicht um offizielle Abstimmungen, sondern sie werden von den Zapatistas selbst in ganz Mexiko organisiert und können somit auch keine gesetzlichen Verbindlichkeiten durchsetzen. 1999 zogen bei der Befragung 5000 Zapatistas in die mexikanischen Kommunen, um die Consulta durchzuführen. Tausende andere Freiwillige halfen bei der Organisation mit. Möglicherweise wird die Befragung folgenlos bleiben, da sie eben keinen offiziellen Status hatte. Was die Zapatistas damit aber in der Öffentlichkeit deutlich machen konnten, ist, dass ihre Forderungen breite Unterstützung in der mexikanischen Gesellschaft finden. Es handelt sich auch um eine Methode, die zu Aufklärung und Vernetzung beiträgt. Bei der Befragung 1995 sprach sich eine große Mehrheit dafür aus, dass die EZLN in eine zivile politische Kraft umgewandelt wird. Dies geschah dann auch Anfang 1996, die EZLN behielt jedoch ihre Waffen und meinte, dass sie sie solange nicht abgeben wird, bis ihre Forderungen durchgesetzt sind.
Insgesamt kann gesagt werden, dass die Zapatistas aus ihrer Sicht gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage durch Kapitalismus und Neoliberalismus, die Herstellung von Ungleichheit über den »freien Weltmarkt« und das autoritäre Einparteiensystem Mexikos kämpfen und für die Aufnahme der Rechte der indigenen Gruppen in die Verfassung, eine Beendigung der korrupten Einparteienherrschaft der PRI, eine Landreform und »tatsächlichen Sozialismus«, der sich durch Basisdemokratie, Kooperation, Solidarität und die Aufhebung der asymmetrischen Verteilung von Wohlstand und Eigentum auszeichnet.

Das Internet spielt eine sehr große Rolle bei der EZLN. Anfang 1990 wurde in Mexiko das alternative Netzwerk La Neta gegründet, das vor allem von Frauengruppen benutzt wurde. 1993 wurde La Neta in Chiapas mit dem Ziel, NGOs zu vernetzen, eingeführt. 1994 wurde das Netzwerk an das Internet angeschlossen. Über das Internet informiert die EZLN die Medien über die Übergriffe der mexikanischen Regierung und über ihre Forderungen. Dadurch ist es für die Regierung viel schwieriger, die öffentliche Meinung durch Manipulationen in den Medien gegen die EZLN zu mobilisieren. Manche BeobachterInnen meinen, dass sich die Zapatistas durch ihre Internet- und die daran angeschlossene Medienpräsenz vor noch stärkerer Repression schützen und die mexikanische Regierung zu Verhandlungen zwingen konnten.
David Ronfeldt, Sicherheits- und Lateinamerikaexperte der RAND-Corporation (mächtigste Forschungsabteilung des US-Militärs), erachtet das Internet als wesentlich bei der Koordination von Demonstrationen in Mexiko, die die Forderungen der EZLN unterstützten, und bei der Verbreitung der EZLN - Kommuniqués.

»Dies, so nun Ronfeldt, habe es Gruppen, die gegen die mexikanische Staatspartei PRI arbeiten, ermöglicht, oft schon wenige Stunden nach irgendwelchen Versuchen der Regierung Zedillo, die Situation zu kontrollieren, internationale Aufmerksamkeit und Unterstützung zu bekommen. Was die mexikanische Regierung letztlich dazu gezwungen hat, die Fassade der Verhandlungsbereitschaft mit der EZLN zu erhalten, und in vielen Fällen ein Einschreiten der Armee in Chiapas und damit brutale Massaker an den Zapatisten verhindert hat« ([Wehling1997], S. 157).

Um solche oder andere Aktivitäten progressiver Gruppen im Internet zu verhindern, sei es nötig, so Ronfeldt, dass sich das US-Militär dezentral in Netzwerkform organisiere. Durch die Nutzung des Internets wurden die Aktivitäten der Zapatistas nicht nur technisch vernetzt, sondern es entstand auch ein soziales Netzwerk der Solidarität, das sich das Internet als Kommunikationsmedium aneignete. Über diese netzwerkförmige Organisationsweise meinte Marcos 1995:

»Wir haben dadurch von Demonstrationen, Liedern, Filmen und anderen Dingen erfahren, die nicht mit dem Krieg in Chiapas [...] in direkter Verbindung stehen. Und so haben wir erfahren, dass sich viele Dinge bewegen und dass ›NEIN ZUM KRIEG‹ in Spanien und in Frankreich und in Italien und in Deutschland und in Russland und in England und in Japan und in Korea und in Kanada und in [...] gerufen, und in vielen anderen Ländern zumindest gedacht wurde [...] wenn ihr alt seid, könnt ihr euren Enkeln zuhause sagen: ›Ich habe damals, Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, auch für Mexiko gekämpft, von zuhause aus, aber ich war dennoch bei ihnen, und ich weiß, sie wollten nur, was alle Menschen wollen, denn auch sie sind Menschen, sie wollten Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit‹« (zitiert nach [Wehling1997], S. 166).

Als Vicente Fox am 1. Dezember 2000 sein Amt antrat, beendete er damit die 70 Jahre währende Regentschaft der Institutionellen Revolutionären Partei (PRI), die seit 1928 den Präsidenten in Mexiko stellte. Als deren Kandidat im Juli 2000 dem Kandidaten der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) Vicente Fox unterlag, war das eine Sensation, die im Land als »Zeitenwende« oder »Mauerfall« gefeiert wurde. Ob damit auch der sogenannte Chiapas-Konflikt beigelegt werden kann, bleibt abzuwarten. Erste Schritte sind getan: Strategische Militärstützpunkte sind seit Antritt der Fox-Regierung abgebaut, ein Teil der inhaftierten Oppositionellen wurde freigelassen und der Kongress wird über ein bislang offiziell blockiertes Abkommen zu »Indio-Rechten« beschließen.

 

(1) EZLN - Ejercito Zapatista de la Liberacion Nacional (Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung)

Gehorchend Regieren und Fragend gehen im Tempo des Langsamsten weiter / zurück
Das Politikverständnis der EZLN und die Zentralen Begriffe: Neoliberalismus, Demokratie und Zivilgesellschaft  
 

Die EZLN ist keine klassische Guerrillabewegung, sie tritt zu einem Zeitpunkt in die Öffentlichkeit, an dem international viele nicht geglaubt haben, dass es einen deutlichen emanzipatorischen linken Widerstand gegen Herrschaft und Ausbeutungsmechanismen geben kann. Der strategische und inhaltliche Bruch der EZLN mit einer weltweiten revolutionären Tradition, zeichnet sich zum Einen in der Tatsache, dass die Zapatisten weder zum Ziel haben, die Regierung zu stürzen, die staatliche Macht zu erobern oder ausschließlich um das Erlangen materieller Verbesserungen kämpfen, sondern eine Stärkung und das Entstehen lokaler, regionaler vernetzter Kämpfe für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit anstreben. Im Konzept der EZLN gibt es kein klassisches revolutionäres Subjekt, wie bei anderen revolutionären Bewegungen allein die Arbeiterklasse beispielsweise, die durch eine revolutionäre Avantgarde mobilisiert werden soll und der Widerstand dem übergeordneten Ziel die Befreiung derselben subsumiert ist, sondern liegt in der Vertretung der Interessen und Forderungen derjenigen, die sich der EZLN angeschlossen haben und an ihrer Gründung beteiligt waren, vor allem indigene Gruppen und KleinbäuerInnen in Chiapas.

»Dies ist der Moment um euch allen mitzuteilen, dass wir den Platz nicht einnehmen wollen und nicht können, von dem sich einige erhoffen, dass wir ihn einnehmen; den Platz von dem aus alle Meinungen, alle Wege, alle Antworten, alle Wahrheiten ausgehen. Das werden wir nicht machen« (6.8.1994 vor dem demokratischen Nationalkonvent; EZLN 1994; 310 zit. in Ana Esther Ceceña, Reflexion einer Rebellion, 2000)

Der Aufstand entsteht nicht mit dem Fokus Staat, sondern eine zentrale Rolle spielt dabei der Kampf gegen die Unterdrückung und Ausbeutung und ein zentraler Aspekt darin ist die Nationalität und Universalität dieses Kampfes, bezüglich politischer Inhalte aber auch Politikformen. Der politische und strukturelle Wandel des Kapitalismus, die neoliberale Politik der mexikanischen Regierung, der Ausverkauf des Bundesstaates Chiapas, der einhergeht mit wesentlichen Änderungen agrarischer Bedingungen von KleinbäuerInnen, der Privatisierung staatlicher Betriebe und der verschiedenen Handelsabkommen zwischen Mexiko und anderen Staaten, durch die Arbeits- und Lebensbedingungen für BäuerInnen und LandarbeiterInnen in Chiapas beschnitten werden, wie oben bereits beschrieben, ist Ziel des Angriffes der Zapatisten. Dabei ist eher nicht von Globalisierung die rede, sondern immer von Neoliberalismus, der Art, wie er oben beschrieben ist, konkret bezogen auf die Situation in Mexiko, ohne jedoch die weltweiten Parallelen und Zusammenhänge außer Acht zu lassen. Im Kampf gegen den Neoliberalismus ist für den zapatistischen Kampf zentral, dass ein weltweites Handeln nötig ist, dass er von allen Ausgeschlossenen, Diskriminierten, und Ausgebeuteten geführt wird angesichts der neoliberalen Globalisierung. (Subcomandante Marcos 1997a zit. in Ana Esther Cecena Reflexion einer Rebellion, 2000)

»Dieses interkontinentale Netz der Widerstände ist keine organisatorische Struktur, hat weder Leitungs- noch Entscheidungszentrum, weder Machtzentrum noch Hierarchien. Das Netz sind wir alle, die widerständig sind.« (2. Erklärung von La Realidad für eine menschliche Gesellschaft und gegen den Neoliberalismus. EZLN 1994)

Ausbeutung erreicht nicht nur alle Regionen der Welt, sondern auch alle Bereiche des Lebens. Ausbeutung, die die Grundlage der Widerständigkeit gegen den Neoliberalismus bildet, wir umfassend verstanden. Ausgebeutet sein bedeutet:

»schwul sein in San Francisco, Schwarzer in Südafrika, Asiate in Europa, Chicano im kalifornischen San Isidro, Anarchist in Spanien, Palästinenser in Israel, Indio in den Straßen von San Christobal, ein Straßenjunge in Neza, Rocker in der Universitätsstadt, Jude in Deutschland, Ombudsmann im Verteidigungsministerium, Feministin in politischen Parteien, Kommunist im kalten Nachkrieg, Pazifist in Bosnien, Mapuche in den Anden, Künstler ohne Mappe und ohne Galerie, Hausfrau Samstagabends in irgendeinem Stadtviertel in irgendeiner Stadt Mexikos, Guerillero im Mexiko des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Streikender in der CTM (Dachverband der regierungstreuen Gewerkschaft), Reporter der Fülltexte für die Innenseiten, Macho in der feministischen Bewegung, Frau alleine in der U-Bahn um zehn Uhr abends, Rentner bei einer Kundgebung auf dem Zócalo, Bauer ohne Land, ein marginalisierter Zeitungsmacher, arbeitsloser Arbeiter, Arzt ohne Stelle, aufrührerischer Student, Dissident im Neoliberalismus, Schriftsteller ohne Bücher und ohne Leser, und, das ist mal sicher, Zapatist im mexikanischen Südosten.« (EZLN 1994:243 zit. in Ana Esther Ceceña, Reflexion einer Rebellion, 2000)

Allein die Tatsache, dass es diese Parallelen weltweit gibt, verbindet die Menschen interkontinental, die für die Veränderung dieser weltweiten Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen kämpfen. Dieser Widerstand ist im Konzept der EZLN gleichzeitig Ziel und Weg, ein politischer demokratischer Prozess und kein starres Konzept.
Der Begriff der Demokratie spielt dabei eine sehr zentrale Rolle, er ist verknüpft mit der Kritik an Macht und Machstrukturen generell. Wie weiter oben bereits erwähnt, hat die EZLN in Abgrenzung an traditionelle Guerillabewegungen, nicht zum Ziel, die Macht in Mexiko mit einem avantgardistischen, homogenisierenden Revolutionsmodell zu übernehmen, sondern der Diversität der Gesellschaft insofern gerecht zu werden, verschiedene Lebensrealitäten und Perspektiven mittels eines demokratischen Raumes miteinander zu verbinden und ernst zu nehmen. Deswegen ist ein Prinzip, alle bedeutenden Entscheidungen durch einen kollektiven Diskussionsprozess zu treffen. Das Prinzip mandar obedeciendo (»gehorchend regieren«), heißt, Formen politischer Artikulation zu entwickeln, die die Regierenden verbindlich darauf festlegen könnten, den Regierten zu gehorchen. Alle Inhaber irgendwelcher repräsentativen, Entscheidungen treffenden Funktionen oder Ämter sollten sofort abrufbar sein, wenn sie oder er den Wünschen den Regierten nicht entspricht (gehorcht), ein Prinzip, dass bereits bei allen Mitgliedern des CCRI, dem kollektiven Führungsorgan der EZLN, angewandt wird. Ein Herrschaftssystem soll demzufolge kein anderes ersetzen, sondern das Prinzip der Herrschaftsverhältnisse als soziale Norm zu durchbrechen, in einem sozialen Raum (z.B. aguas calientes-Diskussionsräume, der EZLN, intergalaktische Treffen, consulta), um der Unterschiedlichkeit und den Minoritäten mit dem Respekt zu begegnen, dass sie berücksichtigt werden. Dabei ist die Idee »caminar al paso de más lento« (das Tempo des Langsamsten zu gehen), ein zentraler Moment im Demokratieverständnis der EZLN. Der Brennpunkt des revolutionären Kampfes verlagert sich insofern vom WAS zum WIE der Politik (John Holloway in: Reflexion einer Rebellion, 2000). Es wird versucht im Widerstand andere politische Formen zu entwickeln, die unabhängig von Staat und Parteien praktiziert wird, nämlich mit der direkten Beteiligung aller, die politisch partizipieren wollen, um eine Veränderung der Gesellschaft zu erreichen. Dabei ist der Dialog mit staatlichen Institutionen nicht ausgeschlossen, die Prämissen jedoch und die Forderungen werden außerhalb von ihnen diskutiert und beschlossen. Die breiteste Diskussion gab es 1999 durch die Durchführung der Consulta (Befragung) der Bevölkerung in allen Bundesstaaten Mexikos, ob die in San Andrés unterzeichneten Abkommen zwischen Regierung und EZLN, in denen es hauptsächlich um indigene Rechte und Anerkennung ihrer Kultur ging, umgesetzt werden sollen. An der Consulta beteiligten sich etwa drei Millionen Menschen in ganz Mexiko.
In Interviews beschreiben Mitglieder der EZLN, dass sie aus Fehler vergangener und anderer Guerillaorganisationen lernen wollen, deswegen Demokratie und Zivilgesellschaft als zentrale Forderungen und Praktiken mit einbeziehen, auch wenn das Konzept nicht neu ist, erinnert es doch durchaus an das alte Konzept »poder popular« (Volksmacht, wobei mit dem Begriff des Volkes in Lateinamerika immer die unteren Schichten, die Marginalisierten gemeint ist).

»Die Demokratie ist das grundlegende Recht aller Völker, Indigenas oder nicht. Ohne Demokratie kann es weder Freiheit, noch Gerechtigkeit oder Würde geben, und ohne Würde gibt es gar nichts mehr.« (EZLN 1994;180)

Und diese »alle« sind in den Worten der Zapatistas Teil der bereits organisierten, aber auch nicht-organisierten Zivilgesellschaft, auf die sich die EZLN seit Anfang Januar 1994 mit den unterschiedlichsten Initiativen, Aufrufen, Forderungen, Appellen bezieht. Nicht der »traditionelle« Aufruf, sich der bewaffneten Bewegung anzuschließen und unterzuordnen, sondern der Aufruf zur Selbstorganisation, zum Aufbau eigener Strukturen, um unabhängig von den politischen Parteien Mexikos die eigenen Interessen, Bedürfnisse und Forderungen zu organisieren, bestimmten die Politik der EZLN seit dem 12. Januar 1994, dem Tag an dem der mexikanischen Präsident aufgrund des Drucks der mexikanischen und internationalen sozialen und politischen Bewegungen den Waffenstillstand verkündete.

»Zivilgesellschaft mag eine Konzession an die postmoderne Modesprache sein«, so die Redaktion Land und Freiheit,

»aber im politischen System Mexikos kommt diesem Ausdruck eine ziemlich klare Bedeutung zu: denn nur in wenigen Ländern ist der Herrschafts- und Korruptionscharakter der verselbständigten politischen Apparate so handgreiflich wie in Mexiko, wo die jahrzehntelange Herrschaft der PRI ein scheinbar unendlich flexibles System von Integrationsmechanismen geschaffen hat, dem etliche revolutionäre Parteien oder auch Guerillas zum Opfer gefallen sind bzw. in die Arme gelaufen sind«.

Darüber hinaus hat die Praxis deutlich gemacht, dass die Hoffnungen, die entscheidenden Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben zu erkämpfen, nicht auf die Regierung gerichtet sein können, sondern von der unabhängigen Organisierung der Zivilgesellschaft abhängen. Ohne ihre Beteiligung kann es keine Veränderungen geben, geschweige denn positive Veränderungen für die Mehrheit der Bevölkerung.

Dabei geht es bei dem Konzept Zivilgesellschaft laut EZLN nicht um die Menschen, die in traditionellen Organisationen kämpfen, sondern um den Raum außerhalb staatlicher Institutionen, die Menschen, die für eine gesellschaftliche Veränderung kämpfen. Die Idee ist, Räume für politische Partizipation zu öffnen, um durch eine Vernetzung der regionalen, lokalen Kämpfe, die Vielheit der sozialen Kämpfe, eine radikaldemokratische gesellschaftliche Veränderung zu erwirken, jenseits von hegemonialen Strukturen.

 

Die Rezeption des zapatistischen Aufstandes in der deutschen Linken weiter / zurück
 

Die bewaffnete Rebellion einiger tausender Indigenas in Südmexiko fand weltweit ein außergewöhnliches Echo in den Medien und eine fast ungeteilte Sympathie. In vielen Ländern Europas und in Nordamerika wurden mexikanische Botschaften besetzt, Demonstrationen und Informationsveranstaltungen organisiert, um gegen eine drohende militärische Niederschlagung der Rebellion zu protestieren.
Doch die EZLN und mit ihr die internationale Solidaritätsbewegung hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend gewandelt. Aus der ursprünglichen Planung eines bewaffneten Aufstandes, mit dem Ziel des Sturzes der Regierung, wurde die Aufforderung der EZLN an andere oppositionelle Kräfte, sich selbst zu organisieren, mit den eigenen Mitteln zu kämpfen und in einen Dialog zu treten.
Erster Ausdruck dieser neuen Strategie war die Convención Nacional Democrática im August 1994, als sich über 6 000 Oppositionelle aus ganz Mexiko aufmachten, um gemeinsam mit den Zapatistas zu diskutieren, wie sie sich das PRI-Regime vom Hals schaffen könnten. Die Bewegung begann sich zu vernetzen und im Januar 1996 rief die EZLN zum »Ersten Interkontinentalen Treffen für die Menschheit und gegen den Neoliberalismus« auf, zu dem über 3 000 Menschen vorwiegend aus Europa und Nordamerika kamen.
Die Deregulierungspolitik des modernen Kapitalismus bedeutet in Mexiko wie in der BRD die Umstrukturierung vom Wohlfahrtsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat. Auf dieser Grundlage könnte eine linksradikale Solidarität an die Zapatistas anknüpfen: Die Befreiung von Staat, Markt, Patriarchat und dem rassistischen Konzept der mexikanischen Nation ist Ziel der EZLN. Sie versucht unter den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen in der Armutsregion Chiapas den Bruch mit Unterdrückungsverhältnissen. Dabei geht es nicht zuletzt darum, wie das klassische Konzept der Machtübernahme durch eines der schrittweisen Zersetzung der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Institutionen ersetzt werden kann.

In der Linken in der BRD wird und wurde viel über Inhalte, Positionen, Aktionen und Formulierungen der EZLN diskutiert. Der Vernetzungsgedanke der EZLN, eben keine klassische Solidaritätsarbeit wie sie zu Guatemala, Nicaragua, El Salvador, etc. pp. aus Europa und Nordamerika ausgeübt wurde, sondern regionale Widerstände gegen den Neoliberalismus weltweit zu vernetzen und dadurch Druck auf Deregulierungspolitiken zu machen ist in Deutschland eher nicht angekommen. Es hat sich zwar auch ein »ya basta« Netzwerk gegründet, in dem sich ein breites Spektrum von hauptsächlich Lateinamerika-Solidaritätsgruppen und Antiimps wiedergefunden hat, in dem das intergalaktische Treffen vor- und nachbereitet wurde, von dem aus aber keine nennenswerten Impulse ausgegangen sind. Desweiteren gibt es Gruppen (wie zum Beispiel CAREA), die eher NGO Politik betreiben, indem sie sich nicht öffentlich positiv auf die EZLN beziehen, sie aber insofern unterstützen, dass sie internationale BeobachterInnen vorbereitet, nach Chiapas in die autonomen Gemeinden zu gehen, um dort alle Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, alle meint, eben auch die, die von der EZLN begangen werden.
Der Aspekt der Vernetzung ist aber durchaus ein Impuls, der nach Deutschland vorgedrungen ist. Bündnisse (und nicht nur temporäre), das Internet, e-mail Foren und unabhängige Medien (z.B. KanalB und indymedia) spielen bei Bewegungen gegen neoliberale Globalisierung und antirassistischen Gruppen mittlerweile eine sehr große Rolle. Bei der antirassistischen Kampagne »Kein Mensch ist illegal«, die 1997 auf der Documenta X in Kassel gegründet wurde hat sich ein sehr breites, heterogenes Bündnis von AntirassistInnen zu einem Netzwerk zusammengeschlossen, von dem, neben unzähligen Kampagnen, auch die antirassistischen Grenzcamps aus organisiert wurden (temporäre Bündnisse), deren Idee sich mittlerweile durch das no border Netzwerk in fast ganz Europa, in den USA und Mexiko etabliert hat.
Auch die Idee alternativer Aktionsformen, neben der klassischen Demo und der konspirativen direkten Aktion, wird und wurde in Gruppen auf lokaler und überregionaler Ebene diskutiert (vergl. Beitrag zu »Pink and silver«).

Das Netzwerk Peoples Global Action (PGA), ya basta und tutte bianche aus Italien beziehen sich in ihren politischen Positionen und Selbstdarstellungen direkt auf den Aufstand der EZLN in Mexiko. So schreibt PGA im Internet:

»Die Gruppen und Basisbewegungen, die sich im Netzwerk von PGA zusammengeschlossen haben, eint die Einsicht, dass ihr Kampf vor Ort mit anderen Bewegungen in anderen Ländern vernetzt werden muss. (...) Die Idee des ›Netzes lokaler Kämpfe‹ geht auf die Zapatistas zurück, (...). Die EZLN schrieb in ihrer Zweiten Erklärung aus dem Lacandonischen Urwald, es gehe darum ›...ein kollektives Netzwerk all unser Teilkämpfe und Widerständigkeiten zu schaffen. Ein interkontinentales Netzwerk des Widerstandes gegen den Neoliberalismus, ein interkontinentales Netzwerk für die Menschlichkeit. Dieses interkontinentale Netzwerk, das Unterschiedlichkeiten respektiert und Ähnlichkeiten anerkennt, wird versuchen, sich mit anderen Widerständigkeiten zusammenzufinden. Dieses interkontinentale Netzwerk der Widerstände ist keine Organisationsstruktur; es hat keinen zentralen Kopf oder Entscheidungsträger, kein Zentralkomitee oder Hierarchien. Wir alle bilden dieses Netzwerk, alle, die wir Widerstand leisten.‹
Sehr wichtig innerhalb dieser interkontinentalen Solidarität ist auch die Ausübung von neuen Protestformen, (...). Ein Aktivist von ›Reclaim the Streets London‹ (RTS) beschrieb das Ausprobieren von neuen Protestformen folgendermaßen: ›Eine wichtige Lektion, die GraswurzelaktivistInnen in England gelernt haben, ist, dass alle interessanten Ansätze der letzten Zeit durch Konvergenzen von Bewegungen, Ideen, Kulturen, Strategien etc. zustande kamen. RTS ist in vielerlei Hinsicht nichts weiteres als ein Zusammengehen der Anti-Straßenbau-Bewegung und der Kampagnen gegen die Verschärfung der Strafjustizgesetzgebung. Diese wiederum war ein Zusammenschluss von Bewegungen von HausbesetzerInnen, travellers (Roma und Sinti), ravers, RechtsanwältInnen und DemonstrantInnen. Manchmal sind solche Konvergenzen nur dadurch entstanden, dass ein paar Leute alte Taktiken in einen neuen Kontext importierten, zum Beispiel die Idee der Baumbesetzung aus den USA, die dort gegen die Abholzung von Wäldern eingesetzt und in England erfolgreich gegen den Straßenbau eingesetzt wurde. Es geht nicht darum, Bewegungen zu addieren, sondern sie miteinander zu multiplizieren, nicht gemeinsame Forderungen zu schreiben, sondern Zusammenstöße zu erzeugen.‹«

 

 
Ya Basta und die Tute Bianche weiter / zurück
 

Tute Bianche ist hauptsächlich eine Aktionsform und ein Selbstverständnis. In ihr erkennen sich verschiedene Menschen, Gruppierungen und politische Strömungen; und prägen somit die Gestaltung der Form.
Ya Basta ist ein Netzwerk von Gruppen, das sich mit dem Aufstand der Zapatistas in mehreren Städten Italiens gebildet hat und eine der politischen Strömungen, die zur Kristallisierung der Tute Bianche beigetragen haben:

»Die Zapatistas haben einen wichtigen Beitrag geleistet, mit ihren Ideen Politik zu machen, ohne um die Macht zu kämpfen. Wir versuchen diese Botschaft zu übersetzen und unsere eigene Ausdrucksform zu finden.«

Inspiriert wurden die AktivistInnen, als sie selbst bis in den chiapanekischen Dschungel Südmexikos anläßlich eines interkontinentalen Encuentros gereist sind.

»Am Anfang haben wir vorhergehende Formen der Direkten Aktion diskutiert, der Sabotage, der revolutionären Gewalt usw. Wir haben daraus geschlossen, dass unter den aktuellen Bedingungen der Zivilgesellschaft, der Gebrauch unserer Körper als Waffe die Kräfte derjenigen Menschen freisetzen könnte, die zu den alten Formen und Schemen nicht geantwortet haben. Es ist eine kreative Form die andere Seite in ein Problem mit einzubeziehen. Mit gewaltfreien Mitteln der Direkten Aktion, bleibt die Sprache der Gewalt auf der Seite der Polizei und des Staates. Klassische Demonstrationen beeindrucken sie nicht mehr, jetzt sind wir als BürgerInnen ungehorsam, sie schlagen zurück, aber wir verteidigen uns. Das zieht die Aufmerksamkeit der Menschen und gibt unserem Protest Echo«.

Diese konfrontative Haltung macht Sinn: das tiefverwurzelte (Selbst)bild des Staates als Institution, die die Interessen aller vereint, ist im neoliberalen Zeitalter stark am bröckeln, in Italien auf jeden Fall früher als in der BRD. Ein offen in Erscheinung tretender Interessengegensatz zwischen legitimen Bedürfnissen von BürgerInnen und staatlichen Maßnahmen ist eine gute Voraussetzung für emanzipative Prozesse, weg von der Forderung an den Staat, sozial abfedernd zu agieren oder ökonomisch steuernd zu intervenieren, mit dem Anspruch, einen Wohlstand für alle zu sichern.

»Unser Beitrag ist eine radikale Form der Konfrontation, die über die klassischen Formen der Demonstration hinaus geht und die Möglichkeit einer Massenbeteiligung mit sichereren Methoden ermöglicht. Junge Leute sehen, dass der Einsatz ihres vor der Polizei geschützten Körpers klare Wirkungen hat. Die Bewegung wächst. Wir sind nicht eine politische Gruppe, es handelt sich um eine horizontale Bewegung, in der jede Person auf ihre besondere Weise zur Debatte und Organisation beiträgt. Alles ist untereinander verstrickt, es gibt Leute allen Alters. Alte Modelle von Avantgarden und Anführer sind vorbei.«

In einem Flugblatt schreiben sie:

»Wir haben uns eine neue Herausforderung gesetzt: aus dem Boden zu sprießen, um uns auf diese Weise in den Aufbau der Gesellschaft einzubringen, um die Selbstverwaltung und Selbstorganisation zu fördern, die in den letzten Jahren aufgebaut wurde. Wir wollen uns vom Widerstand in eine Offensive bewegen, hin in die Arena der Träume, der Rechte, der Freiheit, für die Eroberung der Zukunft, die heute den neuen Generationen verweigert wird«.

Wie die Zapatistas erkennt Ya Basta, dass die Befreiungsprozesse notwendigerweise kontinuierlich in Frage gestellt und neu definiert werden müssen. »Wir gehen mit Fragen auf unseren Lippen«, sagen sie, »nicht mit Befreiungsstrategien, die als absolute Wahrheit festgelegt werden. Diese Tabus, die die Bewegungen der Vergangenheit charakterisiert haben, müssen hinter uns gelassen werden«.

Literatur weiter / zurück

 

....

 
     
Protestbewegungen im globalen Kapitalismus.
    beginn / zurück