junge Welt Inland

23.01.2001
Pro Subjekt, contra Subjekt
Ob so der Umsturz funktioniert? Neue Linke und alte Debatten bei einer Tagung in Frankfurt/Main

Herbert Marcuse soll ja neuerdings wieder unglaublich in sein, stand letztens irgendwo zu lesen. Schiebt man die große Portion an Zweifeln beiseite, die einen da schon beschleichen können, bleibt immerhin bestehen, daß der Sozialphilosoph einst aus lautersten Gründen beim US-Geheimdienst anheuerte.

Lauter sind Herbert Marcuses Schriften ebenfalls. Ganz außergewöhnlich sogar. Auge in Auge mit dem falschen Ganzen legte der Theoretiker gleich reihenweise halbe Sachen vor. Die Triebstruktur sei falsch, der Mensch gerate zunehmend eindimensional, die Welt sei nurmehr verwaltet - all das analysierte Marcuse mit seiner begrifflichen Melange aus Marxismus Lukacsscher Prägung und Freudscher Psychoanalyse. Daß er dabei oft auf halbem Weg stehen blieb und theoretischen Abkürzungen nicht abgeneigt war, warfen ihm schließlich nicht nur die alten Weggefährten Teddy und Max vor. Doch eines hatte Marcuse ihnen voraus: Bei ihm blieb die Hintertür stets offen. Durch die konnte man plötzlich wieder ins falsche Ganze eindringen und dort wahlweise kämpfen, stören, eingreifen oder sich verweigern. »Rebellische Subjektivität« hieß das dann. Ein nur selten ausgesprochenes Schlagwort, das jedoch in seinen Schriften stets als Fluchtpunkt aufblitzt, denn Marcuse schmiedete seine Pläne aus einem geradezu genialen Verständnis von Pop heraus. Einerseits seriös genug, um im akademischen Kanon bestehen zu können, andererseits an genau den richtigen Stellen in der nötigen luftig-unpräzisen Suggestibilität gehalten. Ganze Generationen von Geisteswissenschaftsstudenten witterten nach der Lektüre plötzlich Handlungsoptionen: So könnte der Umsturz funktionieren.

»Ich schau Dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang«, heißt es nun in einer Kongreßankündigung aus Frankfurt/Main, und zumindest der Duktus läßt in der Tat auf die Existenz dieser ausgerufenen neuen Marcuse-Hipness schließen. Das »Problem der Subjektivität und des falschen Bewußtseins« soll theoretisch eingekreist werden, doch angesichts der apostrophierten Podiumsteilnehmer stolpert man förmlich über derart entschiedene Sprachwahl. Dort tummeln sich größtenteils Diskutanten, denen in den vergangenen Jahren nicht unbedingt allzugroße Nähe zu analytischen Termen wie dem »falschen Bewußsein« nachgewiesen werden konnte. Aus guten Gründen, versteht sich, man will ja schließlich nicht nur ein bißchen diskutieren. Das »rassistische Subjekt« werden beispielsweise der Foucault-Spezialist Jürgen Link (KulturRevolution), der ehemalige Spex-Buchrezensent Mark Terkessidis und Leute von Kanak Attak diskutieren. Weitere Podien finden zu den Themen Geschlechterverhältnisse, Postfordismus und Subjektivität sowie zum Komplex Kulturindustrie statt. Tenor der Veranstaltung: »Wie kann das emphatisch mit aufklärerischen Attributen versehene Subjekt gegen Herrschaft in Anschlag gebracht werden? Oder stellen Souveränität und personale Integrität selbst nur perfide Herrschaftstechniken dar? So soll unter Betrachtung dieser beiden subjekttheoretischen Pole die Erkenntnis reifen, daß Identität als notwendiges strategisches Provisorium einer radikaldemokratischen Kultur reflektiert zu verteidigen ist.«

Bleibt nur abzuwarten, ob das alle so sehen werden.

Marek Lantz

*** »Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang«. Tagung zu Subjektkonstitution und Ideologieproduktion. 9. bis 11. Februar, Universität Frankfurt/Main. Kontakt: AStA der Johann-Wolfgang-Goethe- Universität, Frankfurt, Kulturreferat, Mertonstrasse 26-28, 60325 Frankfurt am Main, Fax 069/702039, anmeldung@ verblendungszusammenhang.de. Teilnahmekosten 60 DM, Studenten 30 DM

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