3.4.5.3. Vergleichende Analyse eines in drei
            der angeführten Publikationen verhandelten diskursiven Objekts

Im Folgenden soll die These entwickelt und belegt werden, dernach sich zumindest in den Rubriken "Plattenkritiken" und "Technologie" eine weitere Strategie der Organisation und Produktion von Diskursen finden läßt, die als Diskurse des Expertentums zusammengefaßt werden kann.

Hierzu wird zunächst darauf eingegangen, wie Texte der unterschiedlichen Publikationen über jeweils den identischen Gegenstand einen Diskurs führen. Ich habe daher eine bestimmte Techno-Platte ausgewählt ("Maus & Stolle, Adore/Pan", erschienen nur in Vinylfassung bei Klang Elektronik, Frankfurt 1997), die in "Frontpage", "Groove" und "House Attack" besprochen wurde. In "Raveline" fand sich keine Rezension und "DE:BUG" existierte zum Zeitpunkt deren Erscheinens noch nicht. Alle drei gefundenen Kritiken weisen "Maus & Stolle" als Namen der Musikproduzenten und "Adore/Pan" als Titel der Platte aus, wobei die Schreibweise dieses Titels aufgrund des Zeichens "/" zwischen den Worten in sich bereits die Information enthält, daß sich auf der Platte zwei Tracks, nämlich "Adore" und "Pan" befinden.


"Frontpage" notiert im April 97 zu ihr:
"Pan heißt Panoramaverschiebung mit Unsinn, die Sinn macht. Eine Absurdität, die trotzdem die Zielsetzung der Full Customer Satisfaction miteinschließt. Ein Stück wo nichts passiert, aber wo man genausowenig was vermißt. Ein Stil für sich, der mehr von Playhouse als von Klang hat, aber die Grenzen verwischen sich mit der Zeit sowieso immer mehr. Tolle Platte."
Gekennzeichnet ist die Rezension mit dem Namenskürzel "RRR" und die Platte erhält die Höchstpunktzahl von sechs möglichen Punkten.

"House Attack" Nr.11 vom März 97 beschreibt die Platte wie folgt:
"Da beißt die Maus einen Faden ab und Stolle tritt gemütlich zu, was eigentlich keine Nachricht wert ist, doch darum geht es, aber eben unter dem Gesichtspunkt, daß "Adore" auf einer warmen Milch-Pfütze treibt und "Pan" einfach geradeaus abmarschiert. Die letzte Meldung heißt: In ungefähr der Hälfte aller Technotrackmachenden-Paarbeziehungen findet beim Minimal-Sound eine gegenseitige Wegrationalisierung statt. Schön, schön!"
Die Rezension ist mit einem Autornamen, "ub", was für Uwe Buschmann steht gekennzeichnet. Punkte werden in House Attack nicht vergeben.

Zum dritten schließlich die betreffende Rezension aus "Groove" Nr. 45 vom April/Mai 97:
"Der Achse Frankfurt-Leipzig ist hiermit eine der wirklich großen Überraschungen der letzten Monate gelungen. "Adore" ist ein melancholischer Techno-Soul-Track, der keine Vergleiche zu scheuen braucht. Den meisten Staub hat allerdings "Pan" aufgewirbelt. Abgespeckt und trocken wie die Wüste Gobi, aber kickend wie irgendwas. Erinnert ein wenig an Soylent Green."
Unterzeichnet ist der Text ebenfalls mit einem Autorkürzel. Darüber hinaus werden zwar keine Punkte vergeben, doch die Groove-spezifischen Platten-Klassifikations-Symboliken angewendet.
Hierfür findet sich in jeder Ausgabe eine ausführliche Legende abgedruckt, welche die insgesamt 18 verschiedenen Symbole erklärt. Mittels dieses Systems wird die Platte hinsichtlich der musikalischen Stilistik (House, Drum'n'Bass, Trance etc.) klassifiziert. Weitere Symbole bestimmen sie als "experimentell", "minimalistisch", "kitschig", "hart" oder mit "Vocals" ausgestattet und es wird hinsichtlich der gebrauchsanweisenden Kriterien "Abgehfaktor", was Tanzbarkeit meint, und "Homelistening" unterschieden. Je nach Ausprägung der konkreten Musik können einzelne Symbole bis zu drei Mal pro Platte vergeben werden. Das Klassifizierungssystem kennt dabei nur positive Zuschreibungen, die einzelnen Symbole haben also nur zuordnenden und identifizierenden Charakter. Sie beschreiben lediglich die Präsenz der Musik auf den jeweiligen Platten. Das System beinhaltet keine Klassifikationskriterien, die nach qualitativen Schemen in "Gut/Schlecht" beurteilen.


Schwierig gestaltet sich die Auswertung der drei Rezensionen. Die unmittelbar erkennbaren Gemeinsamkeiten der jeweiligen Rezensionstexte gehen fast - sieht man einmal von der Nennung von Titel und Produzenten ab - gegen Null. Als einzige übereinstimmende Aussage kann das von allen drei Rezensenten abgegebene Qualitätsurteil, daß ihnen die Platte gefiel, angeführt werden. Über die Musik werden kaum übereinstimmende Aussagen getroffen. Darüber hinaus äußern sich die drei Texte in extrem spezifizierten und sich auch untereinander stark unterscheidenden Slangs beziehungsweise Fachsprachen.

So artikuliert der "Frontpage"-Text immerhin noch den Aspekt der Monotonie der Musik ("Ein Stück wo nichts passiert, aber wo man genausowenig vermißt."), um als einziges weiteres Kriterium zur möglichen Einordnung der Musik den Vergleich der Platten-Labels "Klang" und "Playhouse" zu liefern. Um diese Information zu verstehen, muß jedoch zuerst einmal überhaupt gewußt werden, daß "Playhouse" ein anderes Label ist und sich dann auch unter "Playhouse" ein bestimmter Stil oder Sound von Musik vorgestellt werden können.
Darüber hinaus können eventuell Rückschlüsse aus der Tatsache, daß dem Autor "RRR" die Platte gefiel - und er die Höchstpunktzahl vergab - gezogen werden. Für den regelmäßigen Leser der Plattenbesprechungen in "Frontpage" individualisiert sich der überschaubare Personenkreis der Rezensenten relativ schnell. Es lassen sich folglich Überschneidungen deren musikalischer Präferenzen zu den eigenen bestimmen und, hieraus abgeleitet, die Platten einschätzen.

Noch mehr im Regen läßt sicher der "House Attack"-Schreiber den unbedarften Leser stehen. Zwar mag auch er die Platte ("Schön, schön!") und es kann das analoge Argument ins Feld geführt werden, daß bestimmte Rückschlüsse aufgrund seiner ausgewiesenen Person möglich sind, doch danach wird es schon schwierig. Aus literarischen Assoziationen wie "daß Adore auf einer warmen Milch-Pfütze treibt und Pan einfach geradeaus marschiert" Aussagen zur konkret enthaltenen Musik abzuleiten, grenzt fast an ein Ding der Unmöglichkeit. Als die Musik identifizierendes Kriterium kann allenfalls die Tatsache genommen werden, daß die Platte überhaupt in der Zeitschrift besprochen wird.
"House Attack" erscheint nur vierteljährlich und enthält daher keinen Gesamtüberblick über Neuerscheinungen. Stattdessen konzentriert man sich auf eine Auswahl von Platten, die für interessant gehalten werden. Zwar kann "House Attack" nicht mit der eindeutigen Präferenz eines bestimmten Stils von Technomusik in Zusammenhang gebracht werden, doch steht die Zeitschrift zweifellos für einen bestimmten diskursiven, ästhetischen und auch reflexiv-inhaltlichen Stil, an das Thema Techno heranzugehen.
Vor diesem Hintergrund kann die bloße Tatsache, daß eine Platte in House Attack besprochen wird, als orientierendes Zeichen genommen werden. Doch auch dieser Zusammenhang muß, jenseits der Frage, wie die Leser zu jenem Stil stehen, erst einmal gewußt werden.

Demgegenüber kann der Text in "Groove" am ehesten mit gängigen Mustern kulturkritischer Diskurse verglichen werden und ist von den drei untersuchten sicher derjenige, der für unbedarfte Leser am ehesten zu verstehen sein dürfte. Man erfährt, daß die Produzenten aus Frankfurt und/oder Leipzig kommen und findet die beiden enthaltenen Tracks einzeln kommentiert. Mit den Zuschreibungen "melancholischer Techno-Soul-Track" und "trocken (...), aber kickend" werden die Tracks individualisiert und stilistisch beschrieben. Darüber hinaus vergleicht der Text die Platte mit einem anderen Techno-Projekt ("Soylent Green") und es finden sich die angesprochenen "Groove"-spezifischen Symbol-Klassifizierungen.
Die Platte erhält zwei "Techno"-Symbole, eines für "Dub", eines für "Minimalismus", eines für "experimental" und noch einmal zwei Symbole für den "Abgehfaktor". Zusammengefaßt enthält der "Groove"-Text sicher die meisten decodierbaren Hinweise darauf, welche Musik sich überhaupt auf der Platte befindet. Allerdings muß auch hier eingeschränkt werden, daß alle gemachten Hinweise auf Voraussetzungen, die gewußt werden müssen, aufbauen. Selbst wenn man sich unter "Techno" und unter "Soul" jeweils etwas vorstellen kann, so heißt das noch lange nicht, daß man eine Ahnung dafür entwickeln kann, was unter einem "Techno-Soul-Track" zu verstehen ist.
Das gleiche gilt für die verwendeten Symbole, deren Bedeutung eben nicht nur hinsichtlich der wörtlichen Definition, sondern auch bezüglich des begrifflich gemeinten Sounds oder Musikstils gewußt werden müssen.

Zweierlei Schlußfolgerungen sind aus dieser vergleichenden Analyse möglich.
Zunächst können gewisse Rückschlüsse hinsichtlich der Frage, ob und in welcher Art die Objekte des Diskurses dessen Verfaßtheit und Organisationsform determinieren, gezogen werden. So ist nicht festzustellen, daß die angeführten Texte nennenswerte Aussageübereinstimmungen aufweisen. Würden die untersuchten Rezensionen nicht per Überschrift ausweisen, daß sie ein ihnen gemeinsames thematisches Objekt abhandeln, könnte kaum anhand der jeweiligen Diskurse hierauf geschlossen werden. Die einzelnen Rezensionstexte stellen demgegenüber höchst individualisierte und eigenständige Formen dar, das jeweilige Thema zu beschreiben. Das in ihnen enthaltene und von ihnen transportierte Wissen muß daher ebenfalls als höchstgradig spezifisch und individualisiert gefaßt werden.

Es kann daher nicht formuliert werden, daß die Wahl der Objekte die spezifische Verfaßtheit des Diskurses über sie determiniert. Im Gegenteil weisen die untersuchten verschiedenen Diskurse über ein gemeinsames Objekt einen hohen Grad an Unterschiedlichkeit auf. Aufgrund der ausgeprägten Individualität der Diskurse, die - wie gezeigt - bestimmte Schwierigkeiten hinsichtlich ihrer Verstehbarkeit und damit Objektivierbarkeit hervorruft, kann von einer begrenzten Tragweite des in ihnen produzierten und vermittelten Wissens gesprochen werden. Selbst wenn den konkreten Aussagen und Aussageweisen formal ein universaler Wahrheitsanspruch attestiert werden kann, wird dieser in jedem Fall durch den hohen Individualisierungsgrad wieder gebrochen, zurückgenommen und relativiert.
Die strukturelle Insistenz der Aussagen auf ihren Wahrheitswert wird also durch die praktische Komponente ihrer begrenzten Verwendbarkeit für andere Individuen und des damit einhergehenden geringen Kompatibilitätsgrades zu anderen Diskursen abgeschwächt.

Andererseits kann eine dritte diskursive Strategie angegeben werden, die bestimmte Diskurse der Techno-Kultur durchzieht.
Die Konstatierung dieser ist gleichbedeutend mit der Feststellung, daß das den einzelnen Objekten übergeordnete Thema der Platten-Neuerscheinungen, also die konkrete sprachliche Gestaltung der jeweiligen Rubrik, einer einheitlichen Ordnung unterliegt. Im Vorgriff auf die beiden noch zu entwickelnden diskursiven Strategien beschreibt der bekannte DJ Westbam die Grundmuster von Plattenkritiken ebenfalls einheitlich: "Dann gibt es noch die Plattenkritik, wo es dann immer heißt, ja der Sowieso arbeitet hier mit den Sounds X und Y, und entweder eben er kriegt es richtig gut hin, oder er kriegt es nicht hin. Grundfigur: neue Software, ästhetische Revolution. Kurze Spekulation über die Absichten. Moralische Bewertung. Wahlweise: freies Spiel mit Worten, Thema frei, Aussage in Rätseln, Metaphern." (ANM: Westbam, Alphabet IV, S. 125)