2.3. Popmusik und assoziierte Jugendkulturen
       in den 90ern

Spätestens seit der Entstehung von Rock'n'Roll in den 50ern präsentieren sich die Geschichte der Popmusiken und die Geschichte der populären Jugendkulturen als ineinander verschränkte Phänomene. Das Verhältnis von Jugendkulturen und Popmusiken kann daher als reziprok bezeichnet werden.


Segmentarisierung und selbsternannte Minderheiten

In der aktuellen Situation fällt es dabei schwer, eine zentrale und dominante Popmusik auszumachen. Tom Holert und Mark Terkessidis konstatieren, daß sich seit Beginn der 90er in der Popmusik ein Prozeß der Segmentarisierung vollzieht, als dessen Ergebnis momentan mehrere vorliegende Popmusiken von verschiedenen Jugendkulturen als Bezugsrahmen verwendet werden. (ANM: Vgl. Tom Holert/Mark Terkessidis, Einführung in den Mainstream der Minderheiten) Die drei wichtigsten Varianten sind derzeit Alternative Rock, Hiphop und die Techno- und Rave-Musik.

Abgeleitet von Gilles Deleuze's Überlegungen zum Übergang von den Disziplinar- zu den Kontrollgesellschaften, ergibt sich dieses uneinheitliche Dispositiv. Deleuze notiert die allgemeine Krise der Institutionen und Einschließungsmilieus, gleichbedeutend mit dem "fortschreitenden und gestreuten Aufbau einer neuen Herrschaftsform".(ANM: Gilles Deleuze, Postskrpitum zu den Kontrollgesellschaften, S. 262) Die Segmentarisierungsthese kann also auch also Tendenz zur Pluralisierung aktueller Popmusiken verstanden werden.

Neben der Segmentarisierung sehen Holert/Terkessidis ein zweites Ergebnis dieser Entwicklung in der inzwischen gängigen Selbstinszenierung populärer Jugendkulturen als Minderheiten.
Mit der Selbst-Konstruktion einer Minderheit ist auch stets der Entwurf und die Konstruktion eines sich formierenden und dadurch emanzipierenden Subjekts verbunden. Neben dem konstruierten Kollektiv-Subjekt der Minderheit als ganzer, implizieren derartige Strategien gleichfalls die, oftmals suggestiv bleibende, Konstruktion eines individuellen Subjekt-Entwurfs; mit anderen Worten eine Stilfigur eines Individuums aus dieser Minderheit. Unter diesem Aspekt betrachtet, stellt die Segmentarisierung der mit Jugendkulturen verknüpften Popmusiken auch eine Vervielfältigung der in Popmusik konstruierten und enthaltenen individuellen Subjektentwürfe dar.


Subjektentwürfe in Rock und Hiphop

In den Diskursen über Popmusik und Jugendkulturen wird seit dem massiven Auftauchen der Hiphop-Kultur in der zweiten Hälfte der 80er Jahre die Pop- und vor allem Rock-Geschichte als diesbezüglich von der Stilfigur des jungen, weißen Mannes mit der Gitarre dominierte diskutiert. Wenn man so will, fungiert diese Stilfigur als vorherrschender unbewußter und suggestiver Entwurf individueller Subjektivität innerhalb des Referenzrahmens Rockmusik und der ihm assoziierten Jugendkulturen.

Heute kann davon ausgegangen werden, daß diese Figur im aus der Independent-Musik der 80er hervorgegeangenen Alternative-Rock eine neue Heimat gefunden hat. An ihre Seite ist via Hiphop der sich organisierende, Sprechpositionen in der Gesellschaft reklamierende und sich durch diese Praxen zu einer formal vergleichbaren Stilfigur entwickelnde junge schwarze Mann getreten. Darüber hinaus können weitere Variationen des Konzepts angegeben werden: Die Riot Grrls beispielsweise als Versuch, Rock- und Punkmusik vom Frauenstandpunkt aus zu codieren (ANM: Vgl. Tom Holert/Mark Terkessidis, Einführung in den Mainstream der Minderheiten, S. 8) oder aber auch die partielle Verwobenheit von House-Musik und gay culture. In jedem Fall scheint es so, daß die derzeit gängigen Formationsregeln musikalisch geprägter Jugendkulturen bevorzugt über die Konstruktion eines identitären Subjekt-Entwurfs funktionieren.


Das Paradigma der Identität in den Diskursen über Popmusik

Im Zuge der skizzierten Entwicklung spezifizierte sich der Focus der Diskurse über Popmusik in den letzten Jahren zunehmend auf die Frage nach assoziierten Subjektivierungsmustern und den in den sozialen und künstlerischen Kontexten der Musik enthaltenen Subjekt-Stilfiguren. Zu einem zentralen Bestandteil dieser Diskurse wurde so das Thema der mit Popmusiken vermittelten und konstruierten Identitätsentwürfe.
Als historische Ursachen hierfür können zwei Aspekte angeführt werden: einerseits fällt die skizzierte Entwicklung von Hiphop zu einer relevanten Popmusik und -kultur, insbesondere unter dem Aspekt der durch Hiphop und die in dessen Rahmen getroffenen Aussagen forcierten Auseinandersetzung über Subjektfiguren in der Musik, ins Gewicht.

Andererseits können die spätestens seit Beginn der 90er Jahre in den Blick der Öffentlichkeit gerückten zahlreichen und insgesamt heterogenen neo-nationalistischen Tendenzen in aller Welt, jedoch insbesondere in der bundesrepublikanischen Gesellschaft angeführt werden. In diesem Kontext tauchten nun auch verstärkt jugend- und subkulturelle Organisationsformen auf und mit Nazirock wurde eine originäre Popmusik dieses Neo-Nationalismus entdeckt. (ANM: Vgl. zu diesem Thema ausführlich den von Max Annas und Ralph Christoph herausgegebenen Sammelband "Neue Soundtracks für den Volksempfänger", Edition ID-Archiv, Berlin 1993)

Die beiden Pole Hiphop und die Neo-Nationalismen der 90er Jahre führten so zu einer tendenziellen Politisierung der Diskurse über Popmusik in den letzten Jahren, innerhalb derer die Kategorie der Identität eine zentrale Rolle als Reflexions- und Beschreibungsfigur einnimmt.
Exemplarisch kann dafür der bekannte Popjournalist Diedrich Diederichsen genommen werden, der in seinem seit 1992 mehrfach überarbeitet erschienenen Aufsatz "The Kids are not alright" (ANM: Erschienen in: a) "Spex" 11-92, S. __; b) "Max Annas/Ralph Christoph (Hrsg.), Neue Soundtracks für dern Volksempfänger, S. 11-28; c) Diedrich Diederichsen, Freiheit macht arm, S. 253-283) das Identitätsthema an die zentrale Stelle der Analyse von Popmusik und ihr assoziierter Jugendkulturen gerückt hat. Diederichsen analysiert dort die rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992, bei denen er via TV feststellt, daß einer der rassistischen Aggressoren eine aus dem Hiphop bekannte Baseball-Mütze mit dem Malcolm X-Zeichen trägt.

Diederichsen bestimmt die begriffliche Ausgangslage des neuen, sich aus Elementen von Popmusik, Jugendkultur und Politik zuammensetzenden Dispositivs anhand Hiphop wie folgt: "Rasse wie Jugend - werden sowohl als Zuschreibung, Entmündigung und Zwang eingesetzt, als auch, um im Moment des mit einem Fuß in der Tür Stehens, Forderungen zu formulieren, beide leisten das, was Identitäten leisten können: Sie sind wie Baseballschläger und werden in der Regel von der Macht benutzt". (ANM: Diedrich Diederichsen, The Kids are not alright, S. 264)

Die Kategorie der Identität wird also vor allem als politische oder zumindest sich politisch auswirkende Identität verwendet.
Deren Kriterien und Attribute leiten sich daher gleichfalls aus dem Spektrum des Politischen oder besser formuliert des politisch Codierten ab. Als allgemeines Orientierungsmuster, innerhalb dessen sich die Erörterung von Identität in der Regel formiert, können Diskurse um die drei Schlagworte Rasse, Klasse, Geschlecht gegeben werden, zu denen noch der Begriff der nationalen Identität hinzukommt, der zweifellos seit Beginn der 90er Jahre Hochkonjunktur hat.

"Identität betrachte ich als Waffe" (ANM: Diedrich Diederichsen, The kids are not alright, S. 265), definiert daher Diederichsen und "wer ohne primäre Not Identität verlangt, stiftet oder verehrt, ist ein Faschist." (ANM: ebd. 268)

Die Identitätskategorie wird hier also als politische Organisationform individueller oder kollektiver Subjekte verstanden. Häufig werden Pop- und Jugendkulturen daraufhin als "Nations, Tribes and Families" (ANM: Anette Weber, Miniaturstaat Rave-Nation, S. 46) beschrieben oder inszenieren sich gleich selbst als solche. (ANM: Man vergleiche den Begriff der "black nation", der im Hiphop eine große Rolle spielt.) Derart gefasst resultieren aus den identitären Beschreibungsweisen Bewertungskriterien für Popmusiken und sich auf sie beziehender Jugendkulturen.